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Düsseldorf am 10. Juli

In meiner Nachbarschaft nahe der Südallee in Urdenbach gibt es ein kleines Einkaufszentrum. Ein Bäcker, ein Minimarkt für Lebensmittel, eine Poststelle, ein Friseursalon, eine Apotheke, ein Arzt. Vor einiger Zeit gab es noch einen Blumenladen, einen Getränkemarkt und einen Drogeriemarkt, eine Schule und eine Kita.

Es gab sie. Nun nicht mehr. Immer wieder: Veränderungen.

Wie von 1966 bis 2020 die sehr lebendige evangelische Kirchengemeinde mit ihrem Zentrum, der Heilig-Geist-Kirche. Aber auch dort musste das Presbyterium der Gemeinde einschneidende Entscheidungen treffen. Die evangelische Kirchengemeinde Urdenbach besteht jetzt aus einem einzigen großen Pfarrbezirk. Die Glocken hörten auf zu läuten. Das alles habe ich nur beiläufig erfahren, auch weil ich erst Anfang der 2000er-Jahre in diese Gegend gezogen bin. Hier im Wohnbezirk gehe ich nur ab und zu zum Briefkasten oder in einen der kleinen Läden. Nur einmal, zu einer Trauerfeier, führte mich mein Weg in das große, geräumige und helle Gotteshaus. Nun erlebe ich sein Ende.

Für mich, die ich bislang keinen Kontakt zu dieser Gemeinde hatte, eröffneten sich während des Abbruchs der Kirche plötzlich neue Perspektiven und Gedankenwelten. Durch die Abbrucharbeiten wurde ich plötzlich Teil des Geschehens. Ich beobachte jetzt anders, sehe die Menschen in meiner Umgebung, höre zu und komme manchmal spontan in ein Gespräch. So auch an diesem Nachmittag vor einigen Tagen. Da erlebe ich etwas, was mich bewegt und sich wie ein Dominoeffekt fortsetzt:

An der Brottheke in der Bäckerei kaufe ich Brötchen. Ich schaue suchend über die ausgestellten Backwaren, um noch Gebäck für den Nachmittagskaffee mitzunehmen. Dabei sehe ich unwillkürlich auf einen Tisch der Café-Besucher vor dem Laden. Einer der Stammgäste hat etwas ausgebreitet, das alle Blicke auf sich zieht. Sogar die Friseurin hat ihre Arbeit unterbrochen. Zu meiner Verwunderung liegen dort auf dem Tisch bunte Glasstücke. Lachend, staunend und erzählend nehmen sich die Umstehenden von diesen Glassteinen, die noch mit Betonresten behaftet sind. Es sind blaue Steine, kleine rechteckige Glasfragmente, die in verschieden blaugrünen Nuancen in der Sonne leuchten. Im Vorbeigehen werde auch ich aufgefordert, mir welche zu nehmen.

Nebenbei erfahre ich, dass es morgen in der blauen Kiste neben der Baubude noch mehr Steinchen geben würde. „Die dürfen doch nicht verlorengehen“ ist die einhellige Meinung der Anwesenden, während im Hintergrund der Abbruchbagger scheppert und dröhnt. Jetzt verstehe ich. Die Glasfragmente waren Teile des großen Kunstwerks aus Glas und Beton, welches der Glasmaler Joachim Edgar Klos (1931-2007) für die Heilig-Geist-Kirche hier in Düsseldorf-Urdenbach an der Südallee im Jahre 1964 in Zusammenarbeit mit den Werkstätten für Glasmalerei und Mosaik in Kevelaer geschaffen hat. Ein großartiges Werk eines bedeutenden Künstlers!

Es berührt insbesondere diejenigen Menschen, die mit diesem Kunstwerk lange Jahre die Welten aus Licht im Innenraum der Kirche erlebt haben. So werde ich Zeuge von etwas, was die Menschen in der Tiefe bewegt. Vielleicht kann Jan Thorn Prikker dieses Empfinden erklären. Der bekannte holländische Glaskünstler ist der Meinung: „Glasmalerei bedeutet, mit der Sonne selbst zu malen.“ Ein englischsprachiger Filmbeitrag: Lighting the Way: The German Pioneers of Contemporary Stained Glass. Dort habe ich auch diesen Satz gehört, welchen ich so verstehe: „Ein Glaskunstwerk bringt Licht in einen heiligen Raum.“

Lange nach der Entscheidung, dieses Gebäude abzureißen, stand die Kirche ja noch. Sehr viel musste geregelt, auf den Weg gebracht werden. Doch jetzt ist es endgültig. Anfang Juni begann dann lautstark der Abbruch. Die Abbruchfläche wurde sichtbar größer.

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Ich höre, wie eine Passantin im Vorübergehen entsetzt zu sich selbst sagte: „Was machen die da? Es ist doch eine Kirche!“ Ein befreundeter katholischer Pfarrer, der schon zwei Kirchen außer Dienst gestellt (profanisiert) hatte, kommentiert meine Nachricht nüchtern: „Der gesellschaftliche Wandel macht auch vor den Kirchen nicht Halt.“ Eine Freundin, die in meinen Berichten darüber Nachdenklichkeit spürt, meint mitfühlend: „Denk’ dran, es ist nicht irgendein Gebäude, welches abgerissen wird, – es ist eine Kirche, ein Gotteshaus!“

So lässt sich vielleicht auch die Wehmut ein wenig besser erklären, mit der manch ein Bauzaun-Gast den Abbruch begleitet. Die Menschen am Bauzaun berichten von den Seniorentreffen, der eigenen Konfirmation, der Taufe der Enkelkinder, von gemeinsamen Ausflügen und Begegnungen, musikalischen Höhepunkten und sogar vom Bau der Kirche. Ich erfahre aber auch, dass sich viele Gemeindemitglieder schon gut arrangiert haben und jetzt den etwas längeren Weg in die alte Dorfkirche zum Gottesdienst gehen.

Dieser Kirchturm hatte eine Antenne für Mobiltelefonie, ein technisches Gerät. Und doch – als der dinosaurierähnliche Zangenbagger die Antenne vor den dunklen Wolken abkappt, dass sie schließlich herunterfällt, da hätte man annehmen können, dass auch die himmlische Verbindung gekappt worden ist.

Ein Bauarbeiter reicht mir mit einem freundlichen Lächeln durch den Bauzaun ein feucht-gewelltes Heft Predigthilfen, ein Fundstück aus dem Abbruchschutt, und drückte mir noch ein paar Glasstückchen in die Hand. Das Heft heißt: „Ein Kreuzweg für die Gemeinde.“ Es enthält Bilder eines Kreuzwegs von Lucas Cranach.

Auf dem Heimweg betrachte ich die blau-bunten Glasfragmente in meiner Hand. Ja, sie sind zu schade, um sie wegzuwerfen. Doch was bedeuten sie mir? Ich finde keine Antwort. Deshalb entscheide ich mich, sie meiner Nachbarin zu bringen, die zu dieser Kirchengemeinde seit Kindertagen einen Bezug hatte.

Ihre Freude zu sehen, wie ich ihr die blauen Steine zeige, werde ich nicht vergessen. So gerne will sie welche zur Erinnerung haben. Sie hatte sich sehr bemüht, doch irgendwie hatte es nicht geklappt. Und nun waren sie einfach da. Sie erklärt mir dann dazu: „Als Kind habe ich das einfallende Licht der Sonne beobachtet und gestaunt, wenn dieser Lichtschein den Raum hell machte und sich farbig auf dem Fußboden wiederfand. Das hat mich fasziniert und ist eine meiner wertvollsten Erinnerungen.“

Aus dieser Freude heraus habe ich meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Beeindruckt durch die vielen Gespräche, die herzliche Offenheit der Menschen im Café vor der Bäckerei, von den neugierigen und wehmütigen Beobachtern am Bauzaun, von der Professionalität und der Freundlichkeit der Abbrucharbeiter und Baggerführer, habe ich „meine Glassteine“ fotografiert und eine kleine Karte gestaltet, die ich einfach an die Menschen, die sie gerne haben mochten, weitergereicht habe. Recycling im übertragenen Sinn.

Passend dazu hat mir der Baggerführer erklärt, dass alles recycelt wird und eine neue Verwendung findet.

Nichts geht verloren! Wie auch andere Stücke aus der Kirche: Die Glocken rufen nun eine andere Kirchengemeinde in München zum Gottesdienst und die Orgel beglückt Menschen in Paris mit ihrem Spiel. Auch alles andere hat eine neue Verwendung gefunden! Das ist aufgeschrieben in einem Erinnerungsbuch, das mir diese lebendige Gemeinde in all ihren Facetten nachträglich zeigt. Dass ich es geschenkt bekommen habe, ist ein weiterer Dominoeffekt. Dieses Buch hält die Erinnerungen der Menschen wach und wertschätzt die Arbeit aller, die von 1966 bis 2020 dort eine Anbindung, ein Zuhause hatten.

Ich habe mir sagen lassen, dass ein Teil des Glaskunstwerks von Joachim Klos in dem dort neu geplanten Diakoniezentrum seinen Platz finden wird. Die anderen Glasfragmente werden persönliche Erinnerungen wachhalten. 

Gleich bringe ich wieder einen Brief zum Briefkasten bei dem kleinen Einkaufszentrum und höre dort die Menschen im Café vor der Bäckerei neben der Abbruchfläche lachen, sprechen und einander zuhören.

Begonnen haben diese Gedankengänge für mich mit den blauen Glasstückchen, den Fragmenten des Kunstwerks aus dem Betonglasfenster auf dem Tisch dieses Cafés. Meiner Sammlung kleiner Überraschungen fehlt noch eine sehr wichtige Entdeckung am Rande des Bauzauns. Ein Beobachter sagte zu mir: „Haben Sie gesehen? Die Baufirma hat die Bäume gut geschützt. Die alte Linde hier am Straßenrand ist großzügig eingezäunt. So kann sie trotz der Bauarbeiten leben und wachsen.“


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