Auf der Suche nach einem verlorenen Schuljahr

Herr Hintzsche, Sie haben neulich in einem Podcast gesagt, man müsse in der Zeit nach Corona nachholen, was Schüler in über einem Jahr Einschränkungen durch die Pandemie versäumt haben. Wie haben Sie das gemeint – längere Schulzeiten pro Tag, Samstagschule, Unterricht in den Ferien?Burkhard Hintzsche Nein, das habe ich nicht gemeint. Obwohl natürlich sofort danach gefragt worden ist. Aber mein Ansatz ist ein völlig anderer. Nämlich welcher? Hintzsche Es geht um die entscheidenden ersten zwei Jahre, in dem die Kinder einen Zugang zu unserem Schulsystem erleben und erlernen, wie es funktioniert. Dieser Zugang läuft normalerweise in der Gemeinschaft der Mädchen und Jungen untereinander und mit dem Lehrer oder der Lehrerin ab. Die Kinder bauen Beziehungen untereinander auf, es entwickeln sich neue Freundschaften. Sie werden vertraut mit dem System Schule, erleben ihre Lehrer live, begreifen, wie lernen geht, welchen Spaß es macht, wachsen langsam hinein. Das ist der übliche Ablauf. Und der findet im Augenblick kaum oder gar nicht statt. Es gibt Kinder, die ihre Mitschüler und ihre Lehrer virtuell häufiger als in Präsenz erlebt haben. Und das soll nachgeholt werden?Hintzsche Ja, unbedingt. Diese so entstandenen Defizite müssen wir ausgleichen. Denn das Lernen, das die Kinder in dieser Phase erleben, das Erfahren des Umgangs mit neuen Eindrücken, das dient ja nicht nur der Wissensvermittlung. Es fehlt zum Beispiel die Förderung der Kreativität, das Erkennen und Fördern besonderer Fähigkeiten, die jenseits des Unterrichtsstoffes liegen können. Wie soll das unter den gegenwärtigen Umständen stattfinden? Unmöglich. Welche Folgen befürchten Sie?Hintzsche Ich fürchte Lücken oder Probleme bei der späteren Anwendung von Wissen, beim Umgang mit Erlerntem. Weil das in den entscheidenden ersten Jahren derzeit nur lückenhaft vermittelt werden kann. Warum sehen Sie keine Chance, in den Ferien oder durch zusätzliche Stunden einen Ausgleich zu schaffen? Hintzsche Das geht nicht. Wir können zwar Summer-School in den Ferien anbieten. Und das tun wir auch und unterstützen das als Stadt, aber das löst nicht das Problem. Unterricht in die Ferien zu verlegen, also diese freie Zeit zu verkürzen, tut den Kindern nicht gut, aber auch den Lehrern nicht. Die brauchen ja auch alle eine Zeit zur Erholung, zum Durchatmen. Sie denken also nicht über eine quantitative Ergänzung nach, sondern über eine qualitative, inhaltliche? Hintzsche So ist es. Wir werden in den täglichen Lernplänen Angebote ändern müssen. Kinder lernen ja sehr gern, sie empfinden Bildung als Genussmittel, und dies so zu erleben, müssen wir wieder möglich machen. Die Lust am Lernen wieder real werden lassen. Aber wo sollen die Ideen für diese qualitative Ergänzung herkommen?Hintzsche Ich möchte die gesamte Schulgemeinschaft gern für das Thema sensibilisieren mit der Bitte, im Team zu überlegen, was man tun kann – im Rahmen der vom Land vorgegebenen Gesetze zu den Lerninhalten. Die Herausforderung ist, die Schule als Lernort (wieder) zu entdecken und die Begeisterung für Lerninhalte zu wecken, sowohl für die aus dem Lehrplan wie für die anderen. Dabei sind alle gefragt: die jeweilige Schulkonferenz mit Schulleitung, Lehrerkollegium und Eltern, Schulsozialarbeit und die außerschulischen Partner des Ganztags. Als Stadt werden wir das natürlich unterstützen. Aber es müsste doch Ergänzungen im täglichen Lernablauf geben, oder? Hintzsche Das glaube ich auch. Ich könnte mir beispielsweise eine Änderung des Ganztags vorstellen. Mit Ergänzungen im Lehrplan, bei denen das gefördert wird, was wir seit März vorigen Jahres kaum noch tun konnten.Also nicht weniger Mathe, dafür mehr Sport und Kreativitätstraining? Hintzsche Das stimmt. Wir wollen ja Fächer nicht vernachlässigen, sondern nur ergänzend andere Lerninhalte anbieten. Sie denken bei dieser Problemlage nicht an alle Schüler? Hintzsche Ich sehe die Problematik vor allem bei den 1. und 2. Schuljahrgängen, also bei den wirklichen Anfängern. Und dann später in den Jahrgangsstufen 5 und 6, nach dem Wechsel auf die weiterführenden Schulen, wo die Kinder ja ähnliche Prozesse nochmals durchlaufen und sich neu orientieren müssen. Und auch das findet in Corona-Zeiten nicht statt. Ist die Pandemie ein Innovationsmotor für Schulen? Hintzsche Der Unterricht unter Pandemiebedingung ist natürlich für alle Schülerinnen und Schüler anstrengend und herausfordernd. Digitale Lernformate setzen ein Maß an Selbstständigkeit, Verantwortung und bewusstem Umgang mit Medien voraus, das zunächst entwickelt werden muss. Gerade an den Übergängen darf man Schülerinnen und Schüler nicht alleine lassen. Hat die Pandemie die Schullandschaft aus dem Kreidezeitalter herausgeführt? Hintzsche In Teilen ja. Die Zahl der Tablets an Schulen ist erheblich gestiegen, die WLAN-Ausstattung wurde verbessert und die Nutzung digitaler Lernplattformen, all das gehört jetzt zum schulischen Alltag. Wir haben über 30 000 iPads an Schüler und Lehrer gegeben. Und das bei rund 80 000 Schülern und Lehrern insgesamt des Schulsystems Düsseldorfs. Weiterführende Links Der Podcast, in dem Burkhard Hintzsche über die Entwicklungen der Schulen in Corona-Zeiten spricht, ist hier zu hören.

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