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Aus dem Nichts zum Landeschef – wie Jan Ristau zum BSW-Vorsitzenden in NRW wurde

Ein 47-jähriger Anwalt aus Düsseldorf soll die Wagenknecht-Partei in Nordrhein-Westfalen mitaufbauen. Vorher war er nirgends politisch aktiv. Warum tut er sich das an?
Von Marc Latsch (Text)
und Andreas Endermann (Foto)
Veröffentlicht am 11. Oktober 2024
Jan Ristau, Landesvorsitzender des BSW
Vom Grünen-Sympathisanten zum BSW-Politiker: Jan Ristau in der Redaktion von VierNull.

Wer wissen will, warum Jan Ristau mit 47 Jahren erstmals in die aktive Politik wechselt, der sollte sich mit ihm über Meinungsfreiheit unterhalten. Bei diesem Thema wird der Steuerrechtsanwalt und neugewählte Co-Landeschef des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) emotional. Er redet schneller, seine Stimme klingt aufgeregter. Es geht um die Bundesregierung, die andere Meinungen bewusst einschränke, und um die Grünen, die er für die intoleranteste Partei von allen hält. „Die Bereitschaft, die Meinungen anderer Leute auszuhalten, nimmt in Deutschland immer mehr ab“, sagt er dann.

Ristau, Brille, lockiges Haar, kurz-getrimmter Bart, ist eigentlich ein freundlich und bedacht redender Mensch. Sein Name war selbst landespolitisch Interessierten in Nordrhein-Westfalen bis Anfang September völlig unbekannt. Dann gründete der Düsseldorfer als eines von 84 Mitgliedern in Bochum den NRW-Landesverband des BSW und wurde gleich gemeinsam mit dem Ex-Linken-Politiker Amid Rabieh zum Vorsitzendem gewählt. Auch in einer ersten Recherche fand ich keine Hinweise, dass sich Ristau bereits irgendwo zuvor politisch engagiert hätte. Also fragte ich ihn über die Kanzlei an, die er gemeinsam mit seiner Frau in Oberkassel betreibt. Ich wollte wissen: Was bringt jemanden wie ihn plötzlich an die Landesspitze des BSW?

Der Anwalt kommt im Anzug zum Gespräch in die VierNull-Redaktion. Wir sprechen über Musik und Schach. Er spielte in einer Progressive-Metal-Band, deren größter Erfolg „ein Fach im Saturn Düsseldorf“ war, wie er lachend hinzufügt. Und er war in seiner Jugend ein richtig guter Schachspieler, trainierte einst sogar Wadim Rosenstein, der heute als Sponsor dem Düsseldorfer SK zur Deutschen Meisterschaft verhelfen möchte. Die Politik hingegen stand bei ihm lange nicht so im Vordergrund. „Das politische Geschehen habe ich schon immer verfolgt.“ Er habe sich aber nie aktiv in Gesprächskreise oder Parteien eingeklinkt. Dass sich das nun ändert, hat wohl viel mit der Pandemie zu tun.

Die Fehler und Versäumnisse der Corona-Politik aufzuarbeiten, ist eines der Kernthemen des BSW. In Sachsen ist das gerade ein Knackpunkt der Sondierungsgespräche zwischen CDU, BSW und SPD. Die Fundamentalkritik an der Pandemie-Bewältigung und den Waffenlieferungen in die Ukraine unterscheiden die Partei von allen politischen Konkurrenten außer der AfD. Und sie spielen für Ristau eine entscheidende Rolle. Er kritisiert beides scharf. Über die Corona-Maßnahmen sagt er: „Die Politik hat nicht verstanden, dass die Leute, die sich da ungerecht behandelt gefühlt haben, auf unbestimmte Zeit die etablierten Parteien nicht mehr wählen werden.“

Um seinen Weg vom Grünen-Sympathisanten zum BSW-Politiker zu erklären, setzt Ristau in seiner Kindheit an. Er ist in Hellerhof im Düsseldorfer Süden aufgewachsen. Sein Vater ist seit mehr als 50 Jahren SPD-Mitglied. Als Kind habe er für ihn immer Parteiwerbung in die Hellerhofer Briefkästen geworfen, sei mit ihm zum Ostermarsch gegangen. Heute klinge das exotisch, sagt er. Damals sei die Teilnahme an einer Friedensdemonstration normal gewesen.

Mit seinem Vater teilt er auch die Bewunderung für Willy Brandt. „Das ist ein Name, der beim BSW oft fällt“, sagt er. Neben den Themen „Freiheit“ und „Soziale Gerechtigkeit“ habe ihn auch die Frage nach Krieg oder Frieden beim BSW-Beitritt motiviert. Annalena Baerbocks Einsatz für Waffenlieferungen ist ihm heute besonders fremd. „Links“ sei das für ihn nicht, sagt er.

Schon lange bevor sich das BSW offiziell gründet, versucht Ristau Kontakt mit Wagenknecht aufzunehmen. Die habe ihm schon in ihrer Zeit bei den Linken imponiert. Er erhält eine Antwort seines jetzigen Co-Landeschefs Rabieh. Die beiden treffen sich, verstehen sich gut. Ristau wird Mitglied in der „Arbeitsgemeinschaft Recht“, hilft dabei, die Statuten der Bundespartei zu erstellen. Als die Gründung eines NRW-Landesverbands näher rückt, bietet Rabieh ihm die gemeinsame Doppelspitze an. Nach kurzem Zögern sagt Ristau zu.

Wer im Gespräch mit Ristau die Themen Russland und Corona umschifft, der könnte ihn heute noch für einen Grünen oder Sozialdemokraten halten. Sein erstes Engagement galt einst dem Umweltschutz. Und wenn man ihn nach den drängendsten Themen in NRW fragt, antwortet er mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen, einer besseren Bildungspolitik und einer Stärkung der Kommunalfinanzen.

Ristau steht sinnbildlich für den Riss, der in den vergangenen Jahren durch die Gesellschaft gegangen ist. Da ihm die beiden erstgenannten Themen besonders wichtig sind, sieht er es heute ähnlich wie seine Parteichefin Sahra Wagenknecht. „Klar sind vom politischen Spektrum her von den großen Parteien die Grünen und die AfD am weitesten von uns entfernt.“

Der BSW-Landesverband wächst langsam. Das ist so gewollt. Die Partei nimmt Mitglieder nur nach eingehender Prüfung auf. Ende September sind es etwas mehr als 110, hinzukommen laut Ristau etwa 5000 sogenannte Unterstützer in NRW. Auch der Parteivorstand lernt sich erst langsam kennen, zuletzt auf einer ersten Klausurtagung. Selbst Thomas Geisel, den bisher einzigen prominenten BSWler aus Düsseldorf, traf Ristau beim Bundesparteitag in diesem Jahr zum ersten Mal persönlich. Für die Partei gehe es nun darum, Strukturen auch außerhalb der Hochburgen zwischen Köln und dem Ruhrgebiet aufzubauen und bei den Kommunalwahlen 2025 in möglichst vielen Regionen antreten zu können, sagt er. „Aber nicht zu dem Preis, dass man dann nicht mehr genau hinguckt bei den Kandidaten.“

Ristau selbst scheint zunächst kein weiteres politisches Amt anzustreben. Er habe nicht vor, für den Bundestag oder ein kommunales Mandat zu kandidieren, der Aufbau der Landespartei stehe für ihn im Vordergrund. Eine kleine Hintertür lässt er sich aber schon noch offen. Er könne sich sehr viel vorstellen, wenn Sahra Wagenknecht anrufe, sagt er. Schränkt das aber mit Blick auf 2025 ein: „Ich glaube nicht, dass da was passiert.“

Das Thema Meinungsfreiheit beschäftigt Ristau nicht nur als Politiker. Er hat darüber auch ein Buch geschrieben. Es heißt „Meinungsfreiheit in Gefahr! Wie der Staat die Demokratie aushöhlt“ und ist kürzlich erschienen. Darin hat er anhand der Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts analysiert, wo der Staat die Meinungsfreiheit, wie er sagt, „systematisch“ einschränkt. Allen voran aus seiner Sicht die Grünen. Ristau gehört zu jenen Menschen, die sich mit ihrer Meinung nicht mehr repräsentiert fühlten. Das kann man kritisieren oder verstehen. Dass es ein Potenzial für diese Sichtweise gibt, lässt sich angesichts der Umfragen und Wahlergebnisse für das BSW kaum abstreiten.

Dass die Gesellschaft so polarisiert ist, missfällt dem neuen BSW-Landeschef, so sagt er. Er wünscht sich einen offenen und kollegialen Umgang zwischen Anhängern aller Parteien. Dass das nicht mehr funktioniert, lastet er der Bundesregierung und dem aus seiner Sicht zu regierungsnahen öffentlich-rechtlichen Rundfunk an. Dass auch Wagenknecht mit Sprüchen wie jenem von der angeblich „dümmsten Regierung der Welt“ daran einen großen Anteil hat, glaubt er nicht. Das sei begründete Machtkritik.

Jan Ristau ist bis heute großer Schachfan. 2023 brachte er sich dadurch sogar als kultureller Brückenbauer ein. Weil das Einladungsturnier mit einigen der weltbesten Spieler im Düsseldorfer Hyatt-Hotel an Karneval stattfand, waren er und zehn unverkleidete Großmeister an Rosenmontag zu Gast im Rathaus. Zumindest der spätere Turniersieger Lewon Aronjan ließ sich dabei für ein Glas Alt begeistern.

Mit Schach verbindet er allerdings auch eine erlebte Anfeindung. Ein alter Kollege kritisierte ihn in den Sozialen Medien für die gemeinsamen Bilder mit zwei russischen Spielern. Als dann Ristau BSW-Landeschef wurde, kündigte der die digitale Freundschaft. „Das ist genau das, was ich kritisiere“, sagt Ristau dazu. „Man kann nicht mehr über Dinge reden. Stattdessen wird der Kontakt abgebrochen.“

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