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Ganz nah an den Wurzeln der SPD

Die Düsseldorferin Zanda Martens ist im September überraschend in den Bundestag eingezogen. Dort hat sie eine Sache sehr erschreckt, aber nicht von ihrem wichtigsten Anliegen abgebracht.
Veröffentlicht am 28. Dezember 2021
Zanda Martens
Die neue Bundestagsabgeordnete Zanda Martens neben einer Büste von Ferdinand Lassalle, einer der Gründerväter der SPD, die an der Bäckerstraße in der Carlstadt steht. Foto: Andreas Endermann

Am 26. September, kurz vor 18 Uhr, hält Zanda Martens eine Rede, und gut zwölf Stunden später ist plötzlich vieles anders. Der 26. September ist der Tag der Bundestagswahl, ab 18 Uhr laufen Prognosen und Hochrechnungen. Da ein knappes Rennen zwischen SPD und CDU erwartet wird, wollen die Düsseldorfer Direktkandidat:innen der Sozialdemokraten lieber vorher reden. Andreas Rimkus und Zanda Martens danken ihren Helfer:innen, erinnern noch einmal daran, dass es endlich mal wieder erfreuliche Wahlkampfwochen für die SPD waren und gehen zurückhaltend in den weiteren Abend.

Für Zanda Martens ist die Wahrscheinlichkeit höher, es nicht ins Parlament zu schaffen, als dort zu arbeiten. Ihr Wahlkreis gilt als Hochburg der CDU, ihr Listenplatz ist genau an der Grenze: Er erfordert ein richtig gutes SPD-Ergebnis und am besten noch ein paar Überhangs- und Ausgleichsmandate. Der Abend läuft erst einmal wie erwartet. Die Sozialdemokratin schafft ein für einen Neuling beachtliches Erststimmen-Ergebnis, landet aber trotzdem 8,7 Prozentpunkte hinter dem CDU-Kandidaten Thomas Jarzombek. Der Listenplatz bleibt unsicher. Zanda Martens guckt bei allen Feierlichkeiten dieses Abends immer mal wieder nach, eine klare Antwort auf die Frage, ob sie es geschafft hat, gibt es aber nicht. Irgendwann nach Mitternacht geht die Immer-noch-Kandidatin ins Bett.

Lange schläft sie nicht, kurz vor sechs ist sie wieder wach – kurz darauf sieht sie die Mitteilung des Bundeswahlleiters. Er listet auf, wer die 736 Abgeordneten des nächsten deutschen Bundestags sind. Und da steht auch ihr Name. Jetzt muss es schnell gehen, denn schon für Dienstag ist die erste Fraktionssitzung in Berlin geplant. Bevor sie am Nachmittag in den Zug steigt, fährt sie noch ins Büro und verabschiedet sich.

Die plötzliche Wende im Leben der 37-Jährigen bedeutet auch das mindestens vorläufige Ende ihres bisherigen Lebens. Und das ist keine Phrase, denn bis zum Wahlabend war Gewerkschaftsarbeit prägend in der Vita von Zanda Martens. Ihre Eltern arbeiteten in Lettland in einer Stahlfabrik, erlebten beide nach der Wende 1990, wie das Werk privatisiert wurde und das Einkommen danach nicht reichte. Arm trotz Arbeit, das ist die prägende Erfahrung, die die Familie wie viele andere auch machen muss. Die Tochter war die erste und bisher einzige in der Familie, die studieren konnte – dank eines Stipendiums. Nach der Uni arbeitete sie als Juristin für den Vorstand des Lettischen Gewerkschaftsbund. Die Liebe brachte sie 2010 nach Deutschland, hier war sie Rechtssekretärin beim Deutschen Gewerkschaftsbund, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi und bei der IG Metall. Letzteres ist der Job, der nun ruht.

Wie lief Ihr Start in der Hauptstadt?
Zanda Martens Während des Wahlkampfs wollte ich mich nicht auf etwas freuen, das dann nicht Wirklichkeit wird. Deshalb hatte ich mir noch keine Gedanken zu Wohnung und Büro in Berlin gemacht, noch nichts vorbereitet. In Berlin wartet auch keiner auf dich. Für alle kleinen Dinge des Lebens gibt es hier zwar ein Formular. Aber du musst dich trotzdem gelegentlich in der Schlange anstellen. Inzwischen habe ich ein Büro und ein Team, und ich muss hoffentlich auch nicht mehr lange im Hotel wohnen.

Wie hat sich Ihr Leben verändert?
Zanda Martens Sehr. Ich habe jetzt zwei Leben und die sind sehr unterschiedlich. Die Tage in Berlin sind sehr vollgepackt, vieles ist fremdbestimmt durch Termine und Pflichten. In Düsseldorf ist man dagegen komplett fei und kann selbst bestimmen, wie man die politische Arbeit gestaltet. Ich habe mir vorgenommen, meine Arbeit hier vom Wahlkreisbüro aus zu erledigen, damit es eine Grenze zwischen Arbeit und Privatleben gibt.

Was war der bisher ungewöhnlichste Moment in den beiden neuen Leben?
Zanda Martens Der Moment mit der Postkiste.

Die Abgeordneten erhalten erstaunlich viele Schreiben auf dem guten alten Postweg. Das lernt Zanda Martens, als sie zum ersten Mal in die Poststelle geht. Ihr Fach ist randvoll, und dort hängt auch noch ein Zettel. „Bitte nach weiterer Post fragen“, steht darauf. Die Düsseldorferin fragt und erhält eine gelbe Postkiste, die ebenfalls mit Briefen gefüllt ist. Es sind Glückwünsche von Institutionen, von denen Zanda Martens in vielen Fällen bisher nicht wusste, dass sie existieren. Bei ihren E-Mails sieht es ähnlich aus. Wenn man schon als absoluter Neuling so viel Post von Lobbyisten bekommt, was passiert dann erst, wenn man an einem Gesetzesentwurf arbeitet, fragt sich die Abgeordnete.

Wie empfinden Sie diesen Lobbyismus?
Zanda Martens Lobbyismus ist erst einmal nichts Schlechtes. Es kommt dann eben darauf an, wie transparent man damit umgeht und wie ausgewogen man das macht.

Was haben Sie sich in dieser Hinsicht vorgenommen?
Zanda Martens Ich möchte immer alle Seiten eines Themas kennenlernen, nicht nur die Interessen derjenigen, die am lautesten ihre Position vertreten, die mir schreiben oder mich anrufen. Wenn die andere Seite sich nicht meldet, liegt es an mir, diese anderen Positionen zu recherchieren und mich zu informieren. Und ich hoffe, dass der so genannte Fußabdruck kommt, die Bürger:innen also bei einem Gesetz sehen können, mit welchen Interessenvertreter:innen die Entscheidungsträger:innen gesprochen haben.

Zanda Martens sieht sich auch selbst als Lobbyistin. Sie möchte Lobbyistin der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein. Ich frage, ob Gewerkschaften denn noch zeitgemäß seien, um die Situation von Arbeitnehmer:innen zu verbessern. Zanda Martens lässt daran keinen Zweifel erkennen. Gewerkschaften seien notwendiger denn je oder mindestens so wichtig wie in der Zeit ihrer Entstehung, sagt sie. Bei den Veränderungen, die die Arbeitswelt erfahre und die noch vor uns lägen, werde es sehr wichtig sein, das jemand aufpasse, dass die Arbeitnehmer:innen nicht über den Tisch gezogen würden.

Angesichts dieses vehementen Einsatzes verwundert es kurz, dass Zanda Martens 2018 in die SPD und nicht in die Linke eingetreten ist. Schließlich hat die SPD die Agenda-2010-Politik und Hartz IV zu verantworten. Die Düsseldorferin sagt aber, dass für sie immer nur die SPD in Betracht kam. Ja, die Agenda sei ein schwieriges Erbe, aber es gehe jetzt darum zu schauen, was man tun könne, damit sich etwas ändert. Zanda Martens deutet das gute Wahlergebnis der SPD als Vertrauen der Bürger:innen, dass ihre Partei die Themen der arbeitenden Menschen wieder in den Fokus stelle.

Zanda Martens hat dieses Signal durch einen Verzicht gesendet. Sie ist inzwischen promovierte Juristin, verwendete den Doktortitel im Wahlkampf aber nicht. Sie wolle keine unnötige Distanz zu den Wähler:innen aufbauen, sagte sie. In Berlin taucht der Titel dagegen nun auf, etwa auf der Seite der SPD-Bundestagsfraktion. Je nachdem, mit wem man nun spreche, sorge nun gerade das „Dr.“ für Augenhöhe.

„Die Zeit“ hat vor einigen Wochen einen großen Artikel veröffentlicht, in dem sie verwundert feststellt, dass die SPD plötzlich weiblich, migrantisch und divers sei. Inwiefern können Sie diesen Eindruck bestätigen?
Zanda Martens In der Bundestagsfraktion durften sich die Neuen kurz vorstellen. Das war eine lange Runde, sehr interessant. Es sind viele dabei, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, denen die Politik der SPD geholfen und dies ermöglicht hat.

Welche Themen sind diesen jungen Abgeordneten wichtig?
Zanda Martens Das Versprechen, dass die Kinder es einmal besser haben werden, kann in diesem Land immer weniger eingehalten werden. Die Menschen merken heute, wie wenig ihnen vom Lohn bleibt, wie schwierig es ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Das wollen viele in unserer Fraktion ändern.

Ein Umstand bestätigt diese These: Viele der neuen Abgeordneten wollten im Ausschuss für Arbeit und Soziales arbeiten. Auch Zanda Martens hatte diesen Wunsch angegeben. Am Ende konnte er nicht für alle erfüllt werden, die promovierte Juristin ist jetzt Mitglied des Rechtsausschusses. Da werden sehr wahrscheinlich auch zentrale Anliegen der Düsseldorferin auf der Tagesordnung landen. Schließlich stehen im Koalitionsvertrag einige Ziele, die das Arbeitsrecht verändert würden – von digitalen Betriebsratswahlen über bessere Bedingungen für Arbeit in Teilzeit bis zum Bafög für lebenslanges Lernen.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die nächsten vier Jahre?
Zanda Martens Ich möchte den Sinn für die Realität außerhalb des Bundestags nicht verlieren. Ich möchte mit den Menschen, für die ich Politik mache, in Kontakt und geerdet bleiben.

Wie wollen Sie das schaffen?
Zanda Martens Ich habe viele befreundete Leute darum gebeten, dass sie, wenn sie irgendein Anzeichen erkennen, dass ich die Berliner Blase zu wichtig nehme, mich bitte sofort wieder auf den Boden der Tatsachen holen sollen.


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