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Gut integriert wird nicht respektiert

Der aus Russland stammende Düsseldorfer Andy Efremov und der frühere Oberbürgermeister Thomas Geisel haben zwei Gastbeiträge für uns geschrieben. Beide zeigen, wie dringend nötig es ist, über den Umgang mit Menschen nachzudenken, die in unser Land gekommen sind, hier ihren Jobs nachgehen und genau jene sind, die wir nicht nur auf dem Arbeitsmarkt brauchen.
Veröffentlicht am 17. Februar 2022
Andy Efremov
Unser Gastautor Andy Efremov am S-Bahnhof Volksgarten. Er lebt seit 2011 in Düsseldorf, hat mehr als sieben Jahre in verschiedenen internationalen Positionen von Düsseldorf aus gearbeitet und ist 2018 selbständiger Berater im Bereich interkulturelles Management geworden. Foto: Andreas Endermann

Andy Efremov: Wie Deutschland die notwendigen Zuwanderungen verhindert

„Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus“, so der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele. Er wagt sogar eine gewaltige Zahl zu nennen, die im Sommer 2021 von mehreren Medien berichtet wurde: Das Land brauche 400.000 qualifizierte Zuwanderer pro Jahr, um den Fachkräftemangel auszugleichen. Und es soll von Jahr zu Jahr dramatischer werden. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), sprach 2021 von einer Zahl von über 270.000 Fachkräfte, die bereits fehlen. Liegt aber dieser Arbeitskräftemangel teilweise nicht an dem kompromisslosen Einbürgerungsprozess in Deutschland?

Im Herzen der EU zum Beispiel – in Belgien – läuft es anders.

Zum Schreiben dieses Artikels hat mich eine Nachricht von einer Freundin bewegt, die seit 2016 im flämischen Teil Belgiens lebt. Sie stammt wie ich aus Russland, arbeitet in einem japanischen Unternehmen in Brüssel und spricht privat wie beruflich ausschließlich Englisch – also keine der drei Amtssprachen des Landes. Sie wurde neulich eingebürgerte Belgierin, somit Europäerin und musste ihre russische Staatsangehörigkeit nicht aufgeben. So einfach. Auf meine Frage, ob sie irgendeinen Nachweis ihrer Sprach- oder Landkenntnisse einreichen musste, bekam ich die Antwort: „Ihnen reichte mein Niederländisch-Zertifikat aus der Uni“, das sie damals mit einem Anfänger-Niveau (A2-B1) pro forma gemacht hatte. So simpel. Die Frau versteht zwar ein bisschen Niederländisch, aber selbst mit ihrem flämischen Freund spricht sie nur Englisch. Es gab bei der Behörde nicht einmal ein Interview. Sie reichte einfach die wenigen notwendigen Unterlagen ein und kurze Zeit später war sie bereits EU-Bürgerin, nach ihrem fünfjährigen Aufenthalt in Belgien.

Damit will ich keinesfalls andeuten, dass ich diesen für mich zu saloppen Einbürgerungsprozess gutheiße, aber nach 15 Jahren in Deutschland wünschte ich mir ehrlich gesagt einen leichteren Weg als den aktuellen. Zumal ich glaube, dass ich mich als Akademiker mit zwei Abschlüssen und über zehn Jahren Berufserfahrung, der fünf europäische Sprachen beherrscht, zu den qualifizierten Arbeitskräften zählen darf, die in Deutschland zurzeit fehlen.

Ich wollte schon immer Europäer werden. Im Jahr 2008 zog ich von Moskau nach Deutschland, um hier weiter zu studieren. Ganz allein, ohne Familie oder Freunde. Nur ich und mein Reisekoffer. Einfach war es nicht, aber jeder Tag war wichtig für meine Lebenserfahrung. Allmählich wurde Deutschland mein zweites, heute sogar mein erstes Zuhause. Hier lernte ich eine komplett neue Kultur kennen und lieben, gewann neue Freunde, erste erste Berufserfahrungen, outete mich und begann ein ganz neues Leben. Ich arbeitete über sieben Jahre lang in diversen internationalen Positionen von Düsseldorf aus – wo ich seit 2011 lebe – bis ich 2018 selbständiger Berater im Bereich interkulturelles Management wurde.

Deutschland bedeutet für mich heute mehr als ein Zuhause, es bot mir auch die Möglichkeit, als passionierter Kulturlerner Europa zu bereisen und hier mit leichtem Zugang zum EU-Markt zu arbeiten. Auch bedeutet dieses Land für mich die Freiheit ich selbst zu sein, ohne Angst um mein Leben oder ohne meine sexuelle Orientierung aus irgendwelchen privaten oder beruflichen Gründen verbergen zu müssen. Vielleicht wird Deutschland für mich einmal der Ort, wo ich heirate. Diese Privilegien hätte ich in meiner Heimat bedauerlicherweise nicht.

Nichtsdestoweniger bleibt Russland mein Geburtsland, in dem viele Menschen leben, die ich liebe: Meine Mutter, meine beiden Omas, meine Tante, Schulfreunde – kurz gesagt jede Menge Menschen, die aus meinem Leben nicht wegzudenken sind. Diese sind vielleicht keine Europäer im Herzen und sprechen keine Fremdsprachen außer gebrochenes Englisch, aber sie bedeuten mir trotzdem viel. Und ich möchte die Möglichkeit haben, sofort für sie da zu sein, sollte etwas Ernstes in ihrem Leben passieren. Genau aus diesem Grund lasse ich mich nicht einbürgern, obwohl ich den größten Teil meines erwachsenen Lebens bereits hier lebe und mich als wahrer Europäer fühle, der hier nach allen Gesetzen lebt und Steuern zahlt. Ich lasse mich nicht einbürgern, weil ich es mir nicht erlauben kann, meine russische Staatsbürgerschaft aufzugeben und zwei bis vier Wochen lang auf das Visum warten zu müssen (und so lange dauert es im besten Fall), wenn jemand in meiner Familie ins Krankenhaus eingewiesen wurde oder – Gott bewahre – verstorben ist. Meine Tante hatte 2017 Brustkrebs und ich konnte an dem Tag, an dem sie ihre Diagnose bekam, zu ihr fliegen. Die Vorstellung, dass ich darauf lang hätte warten müssen, lässt mich schaudern. Europäer werden in Deutschland hieße für mich leider, meine Familie zu versetzen.

2007 musste ich einen Sprachtest (Test-DAF) ablegen, um in Deutschland studieren zu dürfen, weil es mir wichtig war, in einem deutschsprachigen Programm zu studieren. Auch war es mir wichtig, von vornherein in einer WG mit anderen Deutschen zu leben, um mich hier besser zu integrieren. Nun ist mein Deutsch – laut meinen vielen deutschen Freunden und Kollegen – fast auf dem Niveau eines Muttersprachlers und ich berate Menschen und Gesellschaften aus anderen Ländern zu kulturellen Besonderheiten in diesem ordentlichen, starken und einfach tollen Land, das mein Leben dermaßen in Ordnung gebracht hat. Im Jahr 2015 habe ich probeweise den Einbürgerungstest abgelegt und ihn mit 100% bestanden. Ich habe sogar begonnen, ein Buch über Deutschland zu schreiben. Mit Freude und einer Prise Stolz kann ich heute feststellen, dass ich hier für mich ein neues Leben geschaffen habe, mit neuen Freunden und Liebsten sowie neuen Gegenwarts- und Zukunftsmöglichkeiten. Gekommen um zu bleiben? Zu gern! Aber vielleicht dürfte ich mir nach 15 Jahren nachweislicher Leistungsbereitschaft wünschen, dass dieses Land mich auch so akzeptiert, mit der für mich sehr wichtigen kulturellen, sozialen und vor allem familiären Vergangenheit, die aus meiner neu etablierten Gegenwart trotzdem nicht auszuklammern ist? Und da ich in dieser Situation ganz bestimmt nicht allein bin, frage ich dich, Deutschland: Finden wir einen Kompromiss oder müssen wir für immer Europäer „in spe“ bleiben?

Thomas Geisel: Der Paragraphendschungel des Ausländerrechts

Ich habe keine Ahnung, wer David (Name geändert) meine Handynummer gegeben hat. Er rief mich vor einigen Wochen an und teilte mir – in sehr gutem Englisch – mit, ich sei seine letzte Hoffnung. Solchermaßen geschmeichelt nahm ich mir die Zeit, seine Geschichte anzuhören.

In aller Kürze: David ist Ghanaer und kam mit seiner Frau, einer Nigerianerin, im Jahr 2016 nach Deutschland. Dort stellte er einen Asylantrag, der – wenig überraschend – abgelehnt wurde. Während dieses Verfahren lief, machte er eine Ausbildung zum Gabelstaplerfahrer, die er erfolgreich abschloss. 2016 und 2018 wurden zwei Kinder geboren, die mittlerweile die Kita besuchen. Die Familie lebt schon lange nicht mehr in einer kommunalen Unterbringung, sondern in einer kleinen Wohnung in Düsseldorf-Rath. Erstmals erhielt er im August 2021 eine Beschäftigungserlaubnis und arbeitete ein paar Wochen als Gabelstaplerfahrer in Mönchengladbach. Da die einfache Wegstrecke von seiner Wohnung zu seinem Arbeitsplatz über eineinhalb Stunden dauerte, riet ihm sein Arbeitgeber, doch eine freie Stelle als Gabelstaplerfahrer in Krefeld anzunehmen; dorthin käme er in wesentlich kürzerer Zeit mit der Stadtbahn. David folgte dem Rat und teilte dem Ausländeramt mit, er wolle das Jobangebot in Krefeld annehmen. Dort allerdings nahm man den Jobwechsel offenbar zum Anlass, ihm die Beschäftigungserlaubnis zu entziehen.

Ganz ehrlich: So recht glauben konnte ich das nicht. Also ging ich der Sache nach.

Von der – sehr freundlichen – zuständigen Mitarbeiterin im Ausländeramt erfuhr ich, dass David nach rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrags ausreisepflichtig sei und lediglich deshalb in Deutschland geduldet würde, weil das – mit Sicherheit auch aussichtslose – Asylverfahren seiner jüngsten Tochter noch anhängig sei und im Hinblick auf das Herkunftsland seiner Frau Abschiebungshindernisse bestünden. Eine Beschäftigungserlaubnis hätte ihm nie erteilt werden dürfen, da er nach einem bestimmten Stichtag im Jahre 2015 aus einem sogenannten „sicheren Herkunftsstaat“ – und Ghana falle nun einmal unter diese Kategorie – eingereist sei. So sei das in Paragraph 60a Absatz 6 Nummer 3 Aufenthaltsgesetz geregelt. Immerhin sagte mir die freundliche Mitarbeiterin zu, dass sie mir – natürlich gegen Vorlage einer Vollmacht meines „Mandanten“ – ihre entsprechende Verfügung zur Kenntnis geben wollte.

Als ich diese las, war ich doch einigermaßen sprachlos. Auf insgesamt sechs Seiten arbeitet sich dieses Schreiben an einem regelrechten Gestrüpp von Rechtsnormen ab, das angesichts ständiger Rechtsänderungen (die in der Regel offensichtlich dem jeweiligen politischen Zeitgeist geschuldet sind) praktisch jegliche Systematik eingebüßt hat, und dessen Schöpfer – also der Gesetz- und Verordnungsgeber – offenbar jeglichen Sinn dafür verloren hat, dass diese Vorschriften von ganz normalen Beamtinnen und Beamten des mittleren und gehobenen Dienstes auch noch angewandt werden müssen. Entsprechend liest sich dieses Schreiben, das mit „Ordnungsverfügung“ überschrieben ist. Von allen möglichen Formen von Aufenthaltstiteln ist darin die Rede, um dann darauf hinzuweisen, dass David ja gar keinen Aufenthaltstitel hat, sondern lediglich geduldet ist. Aber auch geduldeten Ausländern könne eine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden, wobei die Bundesagentur für Arbeit der beabsichtigten Beschäftigung zustimmen muss. Bei der Beschäftigungserlaubnis für lediglich geduldete Ausländer sei allerdings sorgsam darauf zu achten, dass eine „die spätere Beendigung des Aufenthalts unter Umständen hindernde auch nur faktische Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse vermieden“ wird. Und dann ist da eben noch der Paragraph 60a Absatz 6 Nummer 3, den ich bereits erwähnt habe.

Nach einer fünfseitigen Safari durch den Paragraphendschungel des Ausländerrechts kommt am Schluss die Überraschung. Da nämlich heißt es, dass David am 18. August 2021 eine Arbeitserlaubnis erteilt worden sei, die zwar rechtswidrig sei (Paragraph 60a Absatz 6 Nummer 3!), auf deren Rücknahme aber aus Verhältnismäßigkeitsgründen verzichtet werde, da die Duldung ohnehin alsbald auslaufe.

Hoppla! Wie, dachte ich, passt das denn zum ersten Satz der „Ordnungsverfügung“: „Ihr Antrag auf Genehmigung einer Beschäftigung wird abgelehnt“? Offensichtlich bestand und besteht hier eine – wie Juristen sagen: bestandskräftige – Beschäftigungserlaubnis, die auch nicht zurückgenommen wurde. Arbeiten darf David aber dennoch nicht. Aber nicht, weil er keine Beschäftigungserlaubnis bekommt oder ihm diese entzogen wird, sondern weil das Ausländeramt die Anforderung von Davids zukünftigem Arbeitgeber einfach nicht an die Bundesagentur für Arbeit weiterleitet.

Das geht natürlich nicht! Denn, ob eine Beschäftigungserlaubnis an geduldete Ausländer erteilt wird oder nicht, steht zwar im Ermessen der Behörde. Ist sie aber einmal erteilt, dann kann sie nicht auf kaltem Wege dadurch ausgehebelt werden, dass die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit (die in solchen Fällen eine reine Formsache ist!) einfach nicht eingeholt wird.

Es mag ja sein, dass in Davids Fall die Arbeitserlaubnis nicht hätte erteilt werden müssen oder dürfen, auch wenn man nicht nur über den Sinn, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift in Paragraph 60a Absatz 6 Nummer 3 trefflich streiten kann. Jetzt aber ist sie in der Welt und kann nicht durch einen erneuten, und in diesem Falle offensichtlichen Rechtsverstoß außer Kraft gesetzt werden.

Zumal es ja letztlich fast ein Glück ist, dass die Vorschrift – Paragraf 60a usw. – bei der Erteilung der Beschäftigungserlaubnis für David offensichtlich übersehen wurde. Denn so fällt David nicht dem Steuerzahler zu Last, kann eine Arbeit ausüben, für die dringend Leute gesucht werden, und kann seine Familie aus eigener Kraft ernähren.

Ob dadurch eine mögliche Abschiebung erschwert wird? Vielleicht. Aber wollen wir Menschen wie David und seine Familie wirklich abschieben? Wohl kaum. Der erhebliche Aufwand, den eine Abschiebung verursacht, sollte auf solche ausreisepflichtigen Ausländer konzentriert werden, die integrationsunwillig oder gar straffällig geworden sind, nicht aber auf arbeits- und integrationswillige Familien.

Damit wäre allen gedient. Nicht nur dem Fiskus, auch dem Arbeitgeber, der händeringend nach Fachkräften sucht, David und seiner Familie natürlich – und wohl auch den völlig überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Düsseldorfer Ausländeramt. Wer sollte sich denn beschweren, wenn eine Vorschrift nicht angewandt wird, mit der der – häufig untaugliche – Versuch unternommen wird, Zuwanderer zu vergrämen und zur Rückkehr in ihr Herkunftsland zu bewegen? Tatsächlich legen wir damit nicht selten den Grund für Hartz-4-Karrieren bei Menschen, die eigentlich gerne ihren Beitrag zu Wohlstand und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft leisten würden und hier dringend gebraucht werden.

Der frühere Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD). Foto: Andreas Endermann
Thomas Geisel (SPD) war von 2014 bis 2020 Oberbürgermeister von Düsseldorf. Heute arbeitet er als Rechtsanwalt. Foto: Andreas Endermann

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