Partei zum Mitreisen gesucht

Ich werde hingehen. Ich habe in meinem Leben noch keine Wahl verpasst, und nur ein einziges Mal per Brief gewählt, weil ich nicht in der Stadt war. Auch diese Wahl werde ich ganz sicher nicht versäumen, sondern in Raum 4 des Leo-Statz-Berufskollegs zwei Kreuze machen – und anschließend drei, dass ich endlich zu einer Entscheidung gekommen bin. Ich bin Stamm-Stimmer, aber kein Stamm-Wähler. In meinen 25 Jahren als Erwachsener habe ich beinahe schon für alle Parteien des demokratischen Spektrums beziehungsweise deren Kandidaten votiert. Mal haben große Parteien meine Stimme bekommen, mal kleine und mal chancenlose, mal mit großer Überzeugung und mal mit Hang zum Einäugigen. So schwer wie dieses Jahr ist mir die Entscheidung aber noch nicht gefallen, so viel Unentschlossenheit war nie. Die Suche nach dem Einäugigen, nach der Partei zum Mitreisen läuft auch sechs Tage vor der Wahl noch. Die schlechtesten Aussichten auf meine Stimme hat die mir am nächsten liegende Partei: die Grünen. Ein großes Klimaschutzpaket, Grundsicherung für Kinder, mahnende Stimme in der Afghanistan-Politik – da ist reichlich dabei, das für eine überzeugte Stimmabgabe genügen würde. Auch der Gedanke, dass in Annalena Baerbock eine Frau Kanzlerin wird, die ungefähr so alt ist wie ich und ebenso Elternteil im Jahr 2021, gefällt mir prinzipiell. Jetzt das Aber: Ethisch betrachtet sind die Forderungen der Grünen natürlich stark. Aus dieser vermeintlichen moralischen Überlegenheit leiten leider viele Grüne eine Unantastbarkeit ihrer Ideen ab, erst recht, wenn sie in Machtpositionen gelangen. Ich habe in den vergangenen Jahren in der Kommunal- und in der Landespolitik immer wieder erlebt, wie Grüne herablassend, überheblich und unerreichbar für andere Ansichten ihr Ding durchgezogen haben. Im Bund waren sie lange nicht mehr an der Macht beteiligt, aber die Skepsis von den anderen Ebenen reicht für Berlin mit. Der Bundesvorsitzende Robert Habeck fordert immer wieder Demut von seiner Partei und ihren Vertreter:innen. Die Praxis dazu suche ich noch. Die Liste der beschriebenen Erlebnisse ist inzwischen erstaunlich-erschütternd lang. Der jüngste Moment ist erst drei Wochen her. Nach jenem Abend war ich ziemlich sicher, wen ich nicht wähle. Menschlich und mit Blick auf das lokale Geschehen müsste die Partei die besten Chancen haben, die bei meinen Wahl-O-Mat-Gängen in aller Regel ziemlich weit unten landet: die FDP. Ich schätze die Unabhängigkeit, mit der ihre Vertreter im Stadtrat agieren, ich habe Respekt davor, wie konsequent die hiesigen Liberalen ihre Werte vertreten. Es sind nur leider nicht meine Werte. Bei aller Freude an der Freiheit, sie hilft Menschen in schwierigen sozialen Situationen nicht, sondern erhält die Lagen aufrecht oder verschärft sie sogar. Die CDU macht es einem leicht – sie nicht zu wählen. Ein wesentlicher Anteil an der Macht erscheint den christdemokratischen Protagonist:innen als Naturgesetz. Deshalb kümmern sie sich auf allen Ebenen des Staates vorrangig um Erhalt statt Inhalt. Wäre Angela Merkel noch einmal angetreten, hätte ich sie vermutlich gewählt. Aber die Gewinner und Opfer der ständigen Machtkämpfe sind erstens oft schwer von einander zu unterscheiden und zweitens wenig attraktiv für den Mann in der Kabine im Raum 4 des Leo-Statz-Berufskollegs. Bei der SPD bin ich hin- und hergerissen. Ich empfinde es als gerecht, dass die Sozialdemokraten, die sich aus Vernunft entschlossen haben, noch einmal in eine Große Koalition zu gehen und Neuwahlen abzuwenden, dafür mal nicht bestraft werden. Dieses Gefühl könnte ich mit meiner Stimme unterstreichen. Leider quert an dieser Stelle eine andere Emotion. Ich bin unsicher, ob die SPD die tieferliegenden Ursachen ihrer Probleme der vergangenen Jahre wirklich schon verstanden und ob sie den erforderlichen Umbruch schon vollzogen hat. Eine Kanzlerschaft für Olaf Scholz könnte die Erkenntnisse überdecken und den Prozess beenden. Dafür möchte ich nicht mitverantwortlich sein. Denke ich ein-, zweimal um die Ecke, könnten die Linken zur Option werden. Sie vertreten die Themen Soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz mit den deutlichsten Forderungen. Geht man jetzt davon aus, dass von diesen Positionen nach Verhandlungen und Kompromissen mehr übrigbleibt, dann könnte man das sinnhaft unterstützen. Leider würde das in derselben Logik bedeuten, dass auch von anderen Maximal-Ansichten mehr bleibt. Und davon hat die Linke ein paar im Angebot, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, die aus einer Stimme ein Risiko und aus dem potentiellen Unterstützer wieder einen nachdenklichen Menschen machen. Damit bin ich jetzt in der Mitte des Wahlzettels angekommen, bei Volt, Klimaliste, Die Partei. Alle haben in ihren Programmen oder Ansätzen Gedanken, für die ich große Sympathien habe. Und es wäre natürlich eine Möglichkeit, diesen Ideen mehr Gewicht zu geben. Andererseits erscheinen mir die Zeiten der Pandemie, des Klimawandels, der wachsenden Ungerechtigkeit zu ernst für zu unerfahrene Politiker:innen. Und damit beginnt die Geschichte von vorn. Ich werde hingehen … Falls noch jemand Argumente weiß, ich wäre dafür bis Sonntagmorgen noch gut zu erreichen.

Partei zum Mitreisen gesucht

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