Thomas Geisel und der Ukraine-Krieg: Ex-OB schießt sich noch weiter ins Abseits
Thomas Geisel erlebt gerade wegen eines Beitrags zum Ukraine-Krieg in seinem Blog eine Welle der Empörung in deutschen Medien und politischen Kreisen. Denn Geisel stellt in Zweifel, was nach übereinstimmender Meinung westlicher Geheimdienste, Militär- und Politanalysten verschiedener Staaten und auch der Ampel-Regierung in Berlin als Fakt gilt: Russland begeht in der Ukraine Massenmord, massakriert willkürlich Kinder, Frauen, Männer, Alte und Junge. Städte werden – wie damals Grosny – in Schutt und Asche gelegt. Viele Journalisten unterschiedlicher Nationalität und Couleur waren in der Ukraine und haben berichtet. Ihre Berichte, Filme und Fotos waren eindeutig. Offenbar nicht für Thomas Geisel.
Um seine Einschätzung kurz zusammenzufassen: Er ist nicht von dem überzeugt, was er auf den verschiedenen Kanälen sieht. Und schätzt es, vor allem kombiniert mit einer harten Kritik am ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, so ein: „Ja, es stimmt: der Überfall auf die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Aber ist er wirklich ein expansiver Vernichtungskrieg, ja gar, wie uns Herr Melnyk glauben machen möchte, ein Genozid gegen das Volk eines friedliebenden demokratischen Landes?“ Zudem sind laut Geisel Zweifel angebracht an den Berichten aus dem Kriegsgebiet: „… können wir der Rhetorik des Kriegsopfers, also der Ukraine, trauen? Von historisch beispiellosen Kriegsverbrechen, ja von Genozid ist hier die Rede und kaum eine westliche Regierung, kaum eine Zeitung oder ein Sender scheint sich der suggestiven Kraft der Bilder und dieser Rhetorik entziehen zu können. Aber stimmt es beispielsweise wirklich, dass Mariupol zu 90 Prozent zerstört ist? Die Bilder, die wir bekommen, sind schrecklich. Aber sind es nicht fast immer dieselben Motive? Dort, wo konkrete Angaben gemacht werden, relativiert sich das Bild. 410 Zivilisten sind – nach ukrainischen Angaben – den Gräueltaten von Butscha zum Opfer gefallen. Selbstverständlich ist jedes zivile Opfer eines Krieges eine Tragödie und eines zu viel. Aber werden durch die ukrainische Genozid-Rhetorik nicht letztlich die Kriegsverbrechen von Srebrenica, My Lai und Babiyar, um nur einige zu nennen, und vielleicht auch die Bombennacht von Dresden, der angeblich 30.000 Menschen zum Opfer fielen, bagatellisiert?“
Geisel tut hier etwas, was bei Geschehnissen dieser Dimension immer schief geht und wovor daher zu Recht stets gewarnt wird: Er vergleicht und relativiert. Er stellt einen Massenmord neben den anderen, was am Ende darauf hinausläuft zu sagen „400 Tote sind schlimm, aber 5000 Tote sind noch schlimmer.“ Also sind 400 Tote weniger schlimm. Ob das ein Genozid ist oder nicht, ist eine Frage, die rein akademisch ist und von der man in diesem Zusammenhang nur abraten kann.
Die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, ist nach seiner Ansicht falsch: „… ist es wirklich realistisch, mit immer weiteren Waffenlieferungen diesen Krieg zu beenden? Dass die Ukraine den Krieg gewinnen kann, dürfte wohl ausgeschlossen sein. Dies käme für Russland einer historisch beispiellosen Demütigung gleich, und allein der russische Nationalstolz würde dafür sorgen, dies unter allen Umständen und mit dem Einsatz aller Mittel zu verhindern. Insofern werden fortgesetzte Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine mit hoher Wahrscheinlichkeit nur dazu führen, dass der Krieg immer länger dauert, die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung immer weiter steigen, eine nachhaltige Friedenslösung immer unwahrscheinlicher und womöglich eine nukleare Katastrophe heraufbeschworen wird.“
Geisel warnt weiter davor, sämtliche wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu kappen, da wir diesem Land aufgrund seiner Rohstoffe einen „guten Teil unseres Wohlstands“ zu verdanken haben.
Dass CDU, FDP und Grüne auf Geisels Text mit heftiger Kritik – „Beschämend“, „Erbärmlich!“, „Verlust des Wertekompass“ – reagierten, ist naheliegend. Aber auch in der SPD ist man entsetzt. Der Co-Vorsitzende der Düsseldorfer Sozialdemokraten, Oliver Schreiber, ist hörbar fassungslos. Die offizielle Stellungnahme: „Die SPD Düsseldorf distanziert sich entschieden von den jüngst veröffentlichten Positionen des ehemaligen Oberbürgermeisters Thomas Geisel zur Ukraine-Krise. Insbesondere eine Relativierung von Kriegsverbrechen der russischen Armee durch ungebührliche Vergleiche verurteilen wir scharf. Er spricht nicht im Namen der SPD. Die SPD Düsseldorf steht fest und solidarisch an der Seite der ukrainischen Bevölkerung.“ Andere sind weniger höflich und wurden sehr persönlich. Originalzitat: „Kann dieser Klugscheißer nicht mal die Klappe halten?!“ Aufmerksam geworden ist man auf den Beitrag allerdings erst sechs Tage nach dessen Erscheinem im Blog von Thomas Geisel.
Da Geisels Text inzwischen bundesweit von den Medien aufgegriffen worden ist, dürfte auch die Landes-SPD alarmiert sein. In knapp drei Wochen ist Landtagswahl in NRW, und was sie am wenigsten braucht, ist ein weiteres Parteimitglied nach Gerhard Schröder und Manuela Schwesig, dem Putin-Nähe unterstellt wird. Melnyk weiß das und hat daher zu Geisels Aussagen das hier getwittert: „Das Weltbild dieser selbstgefälligen Genossenschaft ist echt verstörend. Viel Glück noch bei der NRW-Landtagswahl am 15. Mai.“
Eine weitere Verschlechterung der Beziehung Geisels zu seiner Partei ist übrigens nur noch graduell denkbar: Er lag schon vor der von ihm verlorenen Kommunalwahl im Herbst 2020 mit den Genossen über Kreuz, und seitdem hat sich die Beziehung weiter eingetrübt. Nun erreicht sie einen weiteren Tiefpunkt. Das lassen auch einige Kommentare zu seinem Beitrag ahnen: Beinahe 200 Frauen und Männer haben sich dort geäußert, der weitaus größte Teil negativ, und ein paar scheinen Parteimitglied zu sein. Beifall bekommt Geisel dagegen aus einer Ecke, in der Verschwörungstheorien beliebt sind – „Endlich traut sich mal einer, die Wahrheit zu sagen“, heißt es da.
Wobei Geisel bei einem Teil der Aussagen nicht mal falsch liegt. Die Ukraine hatte ein enormes Korruptionsproblem (und das ist auch noch nicht gelöst), die Entwicklung ihrer Demokratie steckt noch in den Anfängen. Und dass Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Meister der Kommunikation auf allen Kanälen ist, bestreitet niemand. Geschickt nutzt er sein Talent als Schauspieler, und die offizielle Kommunikation ist eine Schlacht dieses Krieges, die die Ukraine längst gewonnen hat. Aber warum sollte man ihm das vorwerfen, zumal es angesichts der Kriegsgräuel zur Zeit nachrangig ist? Außerdem kann Russland dem wenig entgegensetzen, denn Putin steckt in der Falle seiner eigenen Propaganda: Man kann dem Land nur schwer militärische Erfolge präsentieren, denn offiziell führt man ja keinen Krieg und die „Spezialoperation“ verläuft ja planmäßig.
Was Geisel außerdem überhaupt nicht berücksichtigt, ist die schiere Masse an Informationen durch die Social-Media-Kanäle der Menschen. Hinzu kommen Echtzeit-Aufnahmen von Satelliten amerikanischer Dienste und privater Unternehmen, Beobachtungen britischer Militärkreise und eine Fülle anderer Datenflüsse. Das alles als womöglich verzerrt, also nicht glaubwürdig hinzustellen, grenzt hart an eine kühne Verschwörungstheorie.
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Den Text von Thomas Geisel finden Sie hier.