„Bitte, lieber Gott, mach dass meine Mutter nicht in die Hölle kommt“

Ihr Artikel zu Ihren Schulerfahrungen wirkt nach. Ich habe an mir und anderen, abgesehen von Stockschlägen auf den Rücken und auf die Innenflächen der Hände, Ohrfeigen sowie Schlägen auf den Hinterkopf, auch &bdquo;nur“ seelische Grausamkeiten erfahren, keine sexualisierte Gewalt. Ein Mädchen aus meiner Volksschulklasse, wie das damals hieß, liegt mir dennoch bis heute auf der Seele. Ich wurde 1957 in eine katholische Grundschule in der Nähe des Brehmplatzes in Düsseldorf eingeschult. Der Pfarrer der zugehörigen Kirche war auch unser Religionslehrer. Ich war das (meines Wissens) einzige Scheidungskind in der Klasse, und zu den bevorzugten Themen des Pfarrers gehörte, dass meine Mutter als geschiedene und folglich exkommunizierte, wiederverheiratete Katholikin nach ihrem Tod unverzüglich, ohne Umweg über das Fegefeuer, in die Hölle käme und dort für immer bliebe, da sie &bdquo;in wilder Mischehe mit einem Andersgläubigen“ lebte. Der Andersgläubige war evangelisch. Dieses Thema griff der Pfarrer sowohl im Religionsunterricht als auch von der Kanzel beim Schulgottesdienst und an Sonntagen quälend oft auf. Ich verbrachte viele Jahre in Angst und Schrecken und betete jeden Abend lange, lange für meine Mutter, zunächst mit katholisch und dann, sicherheitshalber, auch noch mit evangelisch gefalteten Händen. Katholisch: Hände gerade nach oben gegeneinander gelegt - nur so durften wir in der Klasse und in der Kirche beten. Evangelisch: Finger umeinander verschränkt. Zunächst betete ich im Liegen, dann halb aufgerichtet, im Sitzen, auf den Knien und schließlich im Stehen. Die auf zweierlei Weise gefalteten Hände hielt ich dabei jeweils zunächst in der niedrigstmöglichen Position und hob sie dann zentimeterweise, so weit ich konnte. Dabei betete ich unablässig: Bitte, lieber Gott, mach, dass meine Mutter nicht in die Hölle kommt. Viel schlimmer noch ging es dem einzigen ungetauften Kind in meiner Klasse. Der Herr Pfarrer ließ das zarte kleine Mädchen in einer der ersten Stunden nach der Einschulung aus seiner Bank, ganz links am Fenster, heraustreten und warnte uns mit den Worten: &bdquo;Das ist ein armes Kind, es kann nichts dafür, aber ihr dürft nicht mit ihm spielen und auch nicht mit ihm sprechen. Es ist ein Heidenkind, es ist nicht getauft, und es wird nach seinem Tod in der Hölle schmoren.“ Uns allen graute nun vor dem Mädchen. Sie stand Tag für Tag und, nach meiner Erinnerung - bitte, lieber Gott, mach, dass ich mich täusche -, Jahr für Jahr in den Pausen allein auf dem Schulhof, ganz still unter einem Baum links in der Ecke an der Mauer, und niemand sprach mit ihr und niemand ging zu ihr hin und niemand spielte mit ihr. Und niemand lud sie zum Geburtstag ein. Ich trat kurz nach meinem 21. Geburtstag aus der Kirche aus. 1979 zog ich nach München, aber das Bild von dem Mädchen unter dem Baum verließ mich nicht. Vor einigen Jahren fuhr ich, noch von München aus, im Herbst nach Düsseldorf, ging an meiner alten Schule vorbei, sah das Tor trotz der Herbstferien offen und ging zu dem Baum, unter dem das "Heidenkind" immer stand. Der Hausmeister sah mich, fragte, ob er mir helfen könne, und ich erzählte ihm die Geschichte. Er brachte mich ins Lehrerzimmer, in dem, auch in den Ferien, einige Lehrerinnen arbeiteten. Ich bat sie um Unterstützung bei der Suche nach dem Mädchen, bei dem ich mich so gern entschuldigen wollte für das, was auch wir, die Mitschülerinnen und Mitschüler, ihm angetan hatten. Für unseren Gehorsam gegenüber dem Pfarrer - und unsere Feigheit. Die Lehrerinnen suchten sofort die Akten aus den vergangenen Jahrzehnten hervor und mussten mir sagen, dass das früheste Verzeichnis der Klassen und Namen aus dem Jahr 1962 stammte. Unser damaliger Klassenlehrer war noch abgebildet. Wir gingen aber 1961 von der Volksschule ab und auf weiterführende Schulen. Seit Ende Oktober 2020 lebe ich, zu meinem großen Glück, wieder in Düsseldorf. Wenn ich an meiner alten Schule vorbeikomme, gucke ich in den Schulhof, gehe manchmal auch zu dem Baum, streiche über seinen Stamm und wünsche so sehr, dass das zarte kleine Mädchen, trotz dieser frühen Verletzungen, ein besonders schönes Leben hatte und immer noch hat. Wenn Sie diese Geschichte veröffentlichen wollen, dann gern mit meinem Namen - vielleicht liest das Mädchen es ja. Ich bin kürzlich Ihrer Empfehlung gefolgt und war bei dem Orgelkonzert am Martin-Luther-Platz. Den Organisten Michael Schütz konnte ich gut hören und genießen. Bei den altbekannten kirchlichen Liedern hatte ich, auch ohne Weihrauch, Mühe, ruhig weiter zu atmen. Auf meinen eigenen Erfahrungen liegen zentnerschwer die noch viel ungeheuerlicheren Missetaten der katholischen Kirche und deren Vertuschung.

„Bitte, lieber Gott, mach dass meine Mutter nicht in die Hölle kommt“

„Bitte, lieber Gott, mach dass meine Mutter nicht in die Hölle kommt“

Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.

Kraftwerk, „Autobahn“ und die Welt von 1974

Oberbürgermeister trifft seinen Stimm-Zwilling

Zwei Düsseldorfer Zahnärzte und ihr Lehrling aus Vietnam