Der Reporter geht in eine Altbierkneipe und trinkt ein Glas Milch
Ich habe den Plan, den ich an jenem 7. Dezember 2023 in die Tat umsetze, schon vor langer Zeit gefasst. Seitdem fehlte die Gelegenheit, es fehlte sicher auch der Mut, aber wenn ich es jetzt nicht mache, mache ich es nie mehr. 15.30 Uhr, Bolkerstraße. Ich betrete den Goldenen Kessel, das Gasthaus der Altbierbrauerei Schumacher in der Düsseldorfer Altstadt. Links geht’s in einen Raum, in dem alte Männer mit Biergläsern zusammen an Stehtischen herumhängen. Ich aber gehe nach rechts, in den Raum mit den Tischen zum Sitzen und zum Essen. Ich möchte die Ungeheuerlichkeit, die ich geplant habe, mit einer weiteren Bestellung abschwächen.
Alles in diesem Raum strahlt Tradition aus. Auf einer Tafel steht mit Kreide geschrieben „Herzlich Willkommen in der ältesten Hausbrauerei Düsseldorfs!“. Vor mir auf dem Tisch steht ein Senfpöttchen, das Holz ist dunkel, die Schrift so etwas wie Fraktur. Die Brauerei heißt auch nicht mehr Brauerei, sondern Altbier-Manufaktur, ganz so, als würde das Bier nicht in riesigen Kesseln vor sich hin gären, sondern mit den Händen geformt.
Ich bestelle eine Frikadelle mit Bratkartoffeln, Spiegelei und Salat und außerdem so beiläufig wie möglich: ein Glas Milch. Der Köbes, ein mittelalter, gedrungener Mann, lässt sich nichts anmerken, aber ich bin mir sicher, dass es in ihm arbeitet. Wenige Minuten später serviert er mir die Milch in einem Glasbecher, so ein Exemplar, das man von der Glühwein-Bestellung auf dem Weihnachtsmarkt kennt. Auf dem Glas steht „Düsseldorfer Sternchenmarkt“.
0,2 Liter kalte Milch befinden sich in dem Glas, so zeigt es der Strich an. Irritiert schaue ich auf der Getränkekarte nach. Dort werden 0,25 Liter für 2,20 Euro angeboten. Das entspricht exakt der Menge, die auch in ein Altbierglas passt. Vermutlich geben sie hier so selten Milch aus, dass sie überhaupt nicht wissen, in welches Glas sie gehört. Vielleicht würden sie sich auch eher die Finger abhacken, als Milch in ein Altbierglas zu füllen.
Ich nehme einen Schluck. Die Milch ist kalt, sie ist frisch, sie stammt von einer Kuh. Als das Essen kommt, esse ich es, ab und zu nehme ich noch einen Schluck.
Okay, was soll der Unsinn?
Wie von Zauberhand geleitet, bin ich vor einigen Monaten im Internet auf die Getränkekarte vom Goldenen Kessel gestoßen. Unter den ganzen Bieren, Spirituosen und Limonaden las ich: Milch. Einfach nur Milch. Ich schaute auf die Getränkekarten in den Schänken der anderen Altbier-Institutionen. Füchschen, Uerige, Kürzer, Schlüssel, sie haben Milchkaffee auf der Karte stehen, vielleicht Kakao, aber niemals ein einfaches Glas Milch. Das gibt es nur im Goldenen Kessel und im Schumacher-Stammhaus an der Oststraße.
Das also soll der Unsinn. Ich trinke ein Glas Milch in dieser Altbierschenke, weil es genau nur hier geht. Ich weiß, das reicht nicht. Es gilt im deutschen Edelfeder-Journalismus als unmöglich, über etwas zu berichten, ohne dass es darüber hinausgeht. In eine Altbierkneipe zu gehen, Milch zu trinken und nur das aufzuschreiben, genügt nicht. Es braucht die Überhöhung, es braucht eine zweite Ebene, die so genannte Meta-Ebene, es braucht die Antwort auf die Frage: Worum geht es hier eigentlich? „Titanic“ ist schließlich auch kein Film bloß über eine Schiffskatastrophe, „Der alte Mann und das Meer“ nicht bloß ein Roman übers Fischen. In meinem Text über den Verzehr eines Fünftelliters Milch muss es ebenfalls um viel, viel mehr gehen.
Zum Beispiel könnte sich in Wirklichkeit alles um mein auch für mich nicht leicht zu durchschauenden Verhältnis zum Alkohol drehen. Ich habe in meinem Leben noch nie Alkohol getrunken, nicht in Form von Wein, nicht in Form von Bier, nicht in Form von Schnaps oder Gin. Ich war nie neugierig genug, also habe ich nicht mitgemacht, als meine Freunde mit 14 anfingen.
Warum genau ich nie neugierig genug war, habe ich bis heute nicht herausgefunden. In meinem ellenlangen Text könnte ich exakt dieser Frage nachgehen, inklusive eines Besuchs beim Psychologen. Ich würde mich auch damit beschäftigen, wie sehr das Nicht-Trinken mein Leben geprägt hat, inwiefern es mich zum Außenseiter gemacht, mein Denken bestimmt hat, immer das Gefühl zu haben, nicht ganz dazuzugehören, obwohl ich über Arme, Beine, Hände, Kopf verfüge.
Ich fühle mich im Goldenen Kessel in der Tat nicht wohl, ganz so, als wären alle durch ein geheimes Band verbunden, bloß ich nicht. Der Köbes hat mich vermutlich schon als hoffnungslosen, nicht ganz zurechnungsfähigen Fall eingestuft, alle um mich herum trinken Altbier, sogar die Frauen am Tisch vor mir, bloß ich trinke Milch. Ich spüre den Druck, ich spüre die Erwartung, es wäre so viel leichter für mich zu sagen: Okay, für mich auch eins. Neben der Tafel mit dem „Herzlich Willkommen“ hängen zwei Fotos, ein Mann und eine Frau, vermutlich berühmte Schumachers, die Frau mit grauen Haaren sieht mich streng bis missbilligend an.
Der Text könnte auch von der Normalisierung des Alkohols handeln, von der Alkoholisierung der Gesellschaft. In einem recht moralischen Gedankenspiel könnte ich mir vorstellen, in einem Deutschland zu leben, in dem nicht Koks und Heroin illegal sind, sondern Alkohol. Dann würde das Bier nicht an der Bolkerstraße ausgeschenkt, sondern heimlich auf dem Worringer Platz, in den Goldenen Kessel ginge man niemals, ohne sich vorher zu vergewissern, dass einen niemand gesehen hat.
Kaum hatte ich Platz genommen, fragte der Köbes schon: „Ein Bierchen?“ Ganz so, als bedürfte es keiner Klärung, was ich auf jeden Fall trinke. Als wäre nichts anderes vorstellbar. Die Männertruppe am Tisch neben mir hat nach fünf Minuten bereits die zweite Fuhre vor sich stehen, noch eine, dann sind sie allesamt nicht mehr fahrtüchtig. „Prost, Männer!“, sagen sie. In diesen Text, der ohnehin vor platter Pädagogik kaum noch ohne Augenverdrehen zu lesen wäre, würde ich auch die Zahl der Menschen einfügen, die in Deutschland jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums sterben, dann noch was mit Oktoberfest („Deutschlands größtes Drogenspektakel“ / „Bayrische Loveparade“) und wie man selbst im Berufsalltag mit Alkohol konfrontiert wird („Kommt ihr noch mit zum Weihnachtsmarkt auf einen Glühwein?“).
Meine Reportage könnte ich auch so subversiv anlegen, dass das Vice-Magazin damit seine Webseite aufmachen würde. Ich würde einfach so lang ein Glas Milch nach dem nächsten bestellen, bis der Köbes sagt: „Junge, willst du mich eigentlich verarschen?“ Danach würde er mich rauswerfen, ich würde mich weigern, die Polizei würde kommen und vermutlich meinen Alkoholpegel messen, weil so ein Verhalten doch niemand nüchtern an den Tag legt. Der Text könnte damit enden, wie vier Polizisten mich aus der Kneipe zerren, begleitet von mitleidigen bis verächtlichen Blicken der anderen Gäste. Vielleicht würde der Köbes aber auch nicht die Polizei rufen, sondern mir, der durch seine Kollegen auf den Stuhl gedrückt wird, gegen meinen Willen einen Liter Altbier einverleiben. Die Leute würden sich erheben und ihm applaudieren.
Ich könnte auch über das Prinzip Köbes schreiben, eine Menschengruppe, die mir immer schon so aufdringlich erschien wie kein anderes Service-Personal auf der Welt. Eine Art Kellner-Gott, ein Kaltgetränk-Kapitalist mit Bleistift hinterm Ohr. Immer schön Druck aufbauen, schon nach dem nächsten Getränkewunsch fragen, wenn das Glas noch zu einem Drittel gefüllt ist, im Grunde gar nicht fragen, sondern davon ausgehen, dass auf das eine Glas Bier das nächste folgt. Immer Duzen, niemals das als Kumpeligkeit getarnte Generve zurückfahren, und falls sich jemand weigert – nein, danke, für mich gerade nichts – den Gast einfach in immer kürzeren Abständen wieder fragen bis zur Aufgabe oder Flucht.
Selbstverständlich wollen die Köbesse einem ein Altbier der Hausmarke nach dem nächsten aufdrängen, denn damit macht der Laden den meisten Gewinn, weil sie das Produkt niemandem abkaufen müssen, sondern selbst herstellen. Hätten sie eine Kuh hinterm Haus stehen, würden sie einem ungefragt Milch auf den Tisch knallen.
Ich könnte mich auch seitenweise darüber äußern, warum Netzwerke meistens von Männern dominiert werden, weil sie nämlich auch in Kneipen gepflegt werden. Frauen haben dafür keine Zeit. Irgendwer muss abends zuhause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Kneipen sind safe spaces für Männer, ein Ort, an dem sie noch so sein dürfen wie früher. Wobei es von diesen Orten noch mehr gibt, als Männer glauben, die einen Ort schon dann für feindselig halten, wenn sie sich nicht mehr alles rausnehmen dürfen.
Ich könnte zusätzlich herausarbeiten, wie eng Alkohol und Männlichkeit miteinander verknüpft sind. Dass niemand mit anderen Milch um die Wette trinken würde, Bier hingegen schon. Trinkfestigkeit gilt unter Männern noch immer als Tugend, dabei kommt sie einem nur in einer Situation zugute: bei Trinkwettbewerben.
Ich könnte das alles, es wäre legitim, notwendig und angebracht, aber es wäre eben doch nie der Grund, warum ich an einem Donnerstagnachmittag in eine Altbierkneipe gehe und ein Glas Milch bestelle. Ich bestelle ein Glas Milch – ich sagte es schon – weil ich hier ein Glas Milch bestellen kann. Und ich werde es nie wieder tun. Ich trinke Milch niemals pur, sie schmeckt für mich immer ein wenig nach dem Stall, aus dem sie kommt. Bei Milch denke ich daran, wie mein Vater sie, als ich Kind war, beim Abendessen aus der Packung in sich hineinkippte. Ich selbst trinke Milch nur als Kakao. Aber wer bitte geht denn in eine Altbierkneipe und bestellt Kakao?
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