Der Engel vom Grabbeplatz
Die Szene wiederholt sich jeden Mittwoch und jeden Sonntag zwischen 14 und 16.30 Uhr am Grabbeplatz: Ein kleiner weißer Transporter fährt vor, aus dem Wagen steigt eine zierliche ältere Frau. Sie baut einen Tapeziertisch auf – und wenig später beginnt sie, warmes Essen, Kaffee, Tee, Obst an Obdachlose zu verteilen. Renate Kühn heißt sie, aber die meisten nennen sie Engel vom Grabbeplatz. Weil sie denen hilft, die ohne Hilfe kaum noch klarkommen. Und das macht sie mit einer unglaublichen Energie und viel Durchhaltevermögen. Ihr Sohn hat es mal so beschrieben: „Eines Tages werde ich von der Polizei angerufen, weil du auf dem Grabbeplatz tot umgefallen bist und ich dein Auto abholen soll“. Die 74-jährige Rentnerin hält das nicht für unmöglich. Die Straße zwischen Amtsgericht, Kunsthalle und K20 ist so etwas wie ihr Arbeitsplatz geworden.
An diesem Mittwoch gibt es Grünkohl mit Mettenden und Kartoffeln. Kühn gießt jedem einzelnen Kaffee ein, verteilt den Grünkohleintopf und reicht ein Butterbrot dazu. Kurz vor Weihnachten gibt es außerdem ein bisschen Schokolade und eine Mandarine. Sie macht alles alleine, helfen lässt sie sich nicht gern. Weil: „Nur ich weiß, wo alles hingehört.“
Angefangen hat sie damit im Jahr 2019. Auch vorher hatte sie sich schon in der Armenküche engagiert und Mahlzeiten in der Altstadt verteilt. Doch sie wollte es anders machen, herzlicher, persönlicher. „In einem 100-Liter-Topf eine Suppe zubereiten, die nach zuhause schmeckt, ist quasi unmöglich“, sagt sie. Also kochte sie selbst eine Suppe. Anfangs stellte sie den Topf in einen Kinderwagen, fuhr mit der Bahn zum Grabbeplatz und verteilte sie in kleinen Plastikbechern an Bedürftige. Damals waren nur wenige Menschen da.
Heute fährt Renate Kühn mit einem kleinen Transporter zum Grabbeplatz, um die 20 Bedürftige warten auf sie. Mittlerweile gibt es zwei Gerichte, einen Zehn-Liter-Topf Suppe und einen Salat, dazu selbstgeschmierte Brote, Obst, Konserven, Wasser, Tee und Kaffee. Neben ihrem Auto liegt auf einer ausgebreiteten Decke Second Hand Kleidung, die sich die Bedürftigen mitnehmen dürfen. Obwohl es Renate Kühn nicht leichtfällt, nimmt sie jetzt manchmal doch Hilfe an. Beim Aufbauen des Tisches zum Beispiel oder beim Herausladen der Konserven. „Ich bin ja nicht mehr die jüngste“, sagt sie. Und außerdem habe sie erst verstehen müssen, dass sich ihre „Jungs“ auf diese Art bei ihr bedanken möchten.
Nicht nur Männer nehmen Renate Kühns Angebot, es sind auch zwei Frauen dabei. Laut einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind von den 37.400 Menschen, die 2022 auf der Straße leben, 80 Prozent männlich. Die Dunkelziffer ist hoch, auch der Frauenanteil kann nur grob erfasst werden. „Sie sind meist weniger sichtbar als wohnungslose Männer, da viele Frauen versuchen, ihre Lage nicht zu zeigen. Oder sie begeben sich in entwürdigende Abhängigkeiten, um nicht auf der Straße zu landen“, sagte NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann im Jahr 2020.
Einer von Renate Kühns Jungs ist Rolli. Er hat sie vor drei Jahren zufällig auf dem Grabbeplatz gesehen. Sie kamen ins Gespräch, freundeten sich an. Heute verbindet die beiden eine tiefe Freundschaft, Renate Kühn nennt Rolli ihren Bodyguard. Rolli ist vor einigen Jahren in die Obdachlosigkeit gerutscht, nachdem er seinen Job auf einem Schrottplatz verlor. Nach einigen vergessenen Termine beim Arbeitsamt stand er plötzlich ohne Wohnung da. „Alle sagen, dass es schneller geht als man denkt. Es stimmt“, sagt er. Rolli ist nicht mehr obdachlos. Trotzdem ist er jeden Mittwoch und jeden Sonntag auf dem Grabbeplatz, um Renate zu helfen. „Die Frau ist über 70 und macht alles alleine, das geht doch nicht“, sagt er. Rollis Hilfe nimmt Renate gerne an. „Er ist der einzige, der weiß, wo alles hingehört“, sagt sie.
Bekannt ist die 74-Jährige als „Engel der Obdachlosen“. Diesen Namen hat ihre Tochter ihr gegeben. Dazu bastelte sie ihrer Mutter einen Ohrring, den sie seitdem immer im rechten Ohrloch trägt: Einen lilafarbenen Engel. Lila ist Renate Kühns Lieblingsfarbe und ihr Markenzeichen. Sie hat eine lilafarbene Strähne in ihrem Haar, auch ihre Kleidung trägt die Farbe.
In den ersten zwei Jahren hat Renate Kühn alles selbst gezahlt. Sie war verheiratet und hat als Hausfrau zwei Kinder großgezogen, sie lebt hauptsächlich von der Rente ihres verstorbenen Mannes. Ihr geht es finanziell gut, „zum Leben reicht’s“, doch ihr Engagement sei „ganz schön in die Tasche gegangen“. Deswegen nimmt sie immer öfter Spenden an, beim Kaffee zum Beispiel. Die Düsseldorfer Kaffee-Engel versorgen sie mit Nachschub, wenn zwölf Pfund aufgebraucht sind. Für Renate Kühn ist das eine große finanzielle Entlastung. Auch andere Lebensmittel bekommt sie geschenkt. Einen Großteil ihrer Woche verbringt sie damit, Spenden aus ganz Düsseldorf abzuholen. Ein Vollzeitjob sei das. „Ich bekomme einen Anruf und muss dann meist innerhalb von wenigen Stunden da sein“, sagt sie. Hat sie alles beisammen, macht sie Mittwoch- und Sonntagmorgen eine Bestandsaufnahme und entscheidet, welche Suppe sie an dem Tag servieren wird. Besonders wichtig ist ihr, dass die Zutaten frisch und gesund sind. „Meine Jungs brauchen Vitamine“, sagt sie. Außerdem bereitet sie nie dieselbe Suppe zweimal zu. „Jede Woche schmeckt es anders“, war eines der größten Komplimente, das die 74-Jährige bekommen hat.
Renate Kühn ist eine pragmatische Frau, für Sentimentalitäten ist sie nicht zu haben. Sie hat kein Mitleid, sondern Verständnis für die Menschen, die zu ihr kommen. Sie weiß, dass es jeden treffen kann: „Ich habe meine Rechnungen mal vollständig und auch mal zu spät bezahlt. Ich habe Geld gegeben und musste mir manchmal auch welches leihen. Wir alle haben Höhen und Tiefen im Leben erfahren“, sagt sie. Sie weiß auch, dass Menschen, die leiden, nicht immer freundlich sind. Oft kommt es bei ihren Essensausgaben zu Auseinandersetzungen, weil jemand geklaut oder eine Mandarine zu viel genommen hat. Dann wird sie laut und streng, weil die anderen Bedürftigen dadurch weniger bekommen. Wenn jemand klaut, läuft sie immer hinterher: „Ich kann nicht schnell rennen, aber sie bleiben trotzdem immer stehen, weil sie Respekt haben und wissen, dass sie etwas Falsches tun“, sagt sie.
Es sind nicht nur Obdachlose, die Renate Kühns Angebot annehmen. Auch Bedürftige kommen zum Grabbeplatz, vor allem, seitdem die Preise für Lebensmittel in die Höhe geschossen sind. In der letzten Zeit sind statt 20 meist über 30 Menschen da, die eine warme Mahlzeit annehmen. Einer von ihnen ist Winnie. Der 67-Jährige hat als Elektroingenieur gearbeitet, wurde aber entlassen, als er 52 Jahre alt war. Mit seiner Rente kam er bisher gut aus, aber die Preiserhöhungen wirken sich auch auf seinen Geldbeutel aus. „Ich brauche neue Winterschuhe, unter 100 Euro bekommt man ja nichts mehr“, sagt er. In seinem Viertel gibt es eine Annahmestelle für gebrauchte Klamotten und Gegenstände, die Bedürftige nutzen können. Dort hat er auch schon geschaut, aber bisher war nichts dabei. Im Gegenteil: „Ich habe oft das Gefühl, dass die Menschen ihren Müll dort abliefern. Letztens wurden dort gebrauchte Zahnbürsten hingelegt. Die möchten wir auch nicht benutzen, das ist entwürdigend“, sagt Winnie. Er weiß, dass ihm so etwas bei Renate nicht passiert. „Wir sind auf Augenhöhe“, sagt er.
Wie lange die 74-Jährige ihren „Vollzeitjob“ noch ausüben kann, weiß sie nicht. Sie glaubt nicht, dass jemand an ihrer Stelle weitermachen wird, wenn sie nicht mehr kann. Weil die meisten zu sehr mit sich beschäftigt sind und ihnen Obdachlose egal sind? Nein, sagt Renate Kühn, pragmatisch wie sie ist. „Weil sie ihre Rente genießen möchten, was ich sehr gut nachempfinden kann“. Über die Zukunft möchte sie aber nicht allzu viel nachdenken. „So schnell fall‘ ich schon nicht um“, sagt sie.
Sollte jemand spenden wollen – Kleidung, Lebensmittel etc. – ist das willkommen, aber vorherige Kontaktaufnahme bitte nur über Facebook: https://www.facebook.com/renate.kuhn.12