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Fall Minouche: Das ist die Geschichte der Tochter des Liebhabers

Als Nadine H. zufällig unseren True-Crime-Podcast hört, entdeckt sie darin den Fall ihres Vaters. Der hatte Anfang der 1970er Jahre mit seiner Geliebten geplant, deren Ehemann umzubringen. Damals war Nadine ein Kind und es stört sie, dass über die Täter berichtet wird, aber nicht über deren Familien. Nun spricht sie hier über ihr Leben.
Veröffentlicht am 11. Juli 2023
Nadine Haas
Nadine H. am Strand in der Nähe der mallorquinischen Stadt Can Picafort. Wolfgang Sohn hat sie dort getroffen und fotografiert.

Am vorläufigen Ende dieser an bizarren Details reichen Geschichte sitze ich im Café El Sol in Son Serra de Marina an einem Surfer-Strand der mallorquinischen Nordküste. Ich spreche mit einer Frau von knapp 60 Jahren. Sie wurde in Düsseldorf geboren und lebt heute auf Mallorca.

Nadine H. (ihren vollen Namen mag sie nicht nennen) war ein Kind, als das Schicksal sie zur ahnungslosen Akteurin eines beispiellosen Kriminalfalls machte – dem Fall Minouche. Das war der vom Ehemann gewählte Kosename einer Frau, die Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit ihrem Liebhaber beschloss, diesen Ehemann umzubringen. Die beiden hatten sein Vermögen im Visier. Der Mord misslang trotz dreifachen Anlaufs, alle Beteiligten gingen ins Gefängnis: ein angeheuerter Killer, Minouche und ihr Freund.

Die Frau, mit der ich jetzt spreche, ist die Tochter dieses Mannes und war acht Jahre alt, als er 1971 für lange Zeit aus ihrem Leben verschwand. Er sei in Afrika, um Batikhemden und T-Shirts verkaufen, erzählten ihr die Großeltern. Das war glaubhaft, denn er hatte kurz zuvor eine Boutique in Mönchengladbach gehabt und zuletzt als Verkäufer beim schicken Herrenausstatter Selbach zwischen Kö und Berliner Allee gearbeitet. Also schien dem Kind das nicht abwegig. Lange hat es das geglaubt.

Im Knast
In Wahrheit saß der Vater in der Ulmer Höh seine Strafe ab. Ab und zu, das erkannte Nadine später, ist ihr Großvater mit ihr in die Nähe gegangen und hat sie an einer bestimmten Stelle gegenüber dem Gefängnis ein bisschen spielen lassen. Dort konnte man sie, die davon nichts ahnte, von einem bestimmten Zellenfenster aus sehen – dem des Vaters. Zu ihm hinein durfte sie nie, ihre Mutter war bis zuletzt dagegen. Erst einige Zeit später, 1974, besuchte sie ihn im offenen Vollzug in Bielefeld. Da war sie elf.

Zu dieser Zeit hatten die Eltern sich bereits getrennt. Der Vater, seit Mitte der 1960er Jahre heimlich liiert mit Minouche, wollte seine Frau und das Kind verlassen, um frei zu sein für die neue Partnerin. Die hatte ebenfalls vor, sich von ihrem Mann zu trennen, aber nicht von ihrem hohen Lebensstandard. Deshalb sollte der Gatte sterben, was man gemeinsam plante und versuchte umzusetzen. Drei Versuche scheiterten: ein Stromschlag, eine Vergiftung mit dem Toxin des japanischen Kugelfischs Fugu und schließlich die Schüsse aus dem Gewehr eines angeheuerten Kriminellen, dem man 50.000 D-Mark für den Mord angeboten hatte. Für dieses Geld hatte ein Mann namens Felix Kamphausen zugesagt, den Job mit einem Kleinkalibergewehr zu erledigen.

Eine enge Bindung zu Mutter und Vater gab es nicht, erinnert sich Nadine H. – ohne Groll. Wie viele Kinder mit lieblosen Eltern empfand sie ihr Leben als normal, sie kannte es ja nicht anders. Heute, Jahrzehnte später, spricht sie locker darüber. Sie hat ihren Frieden damit gemacht und wenig Kontakt zur Mutter, die nach wie vor in Düsseldorf lebt. Zuletzt habe man ein entspanntes Verhältnis gehabt. Die Mutter sei in den Jahren davor wohl mit Nadines wenig gradlinigem Lebenslauf nicht klargekommen.

Oma und Opa
Ihr ist jedoch klar, dass ihre Geschichte auch anders hätte laufen können. Gerettet wurde sie von den Eltern ihres Vaters: Bei denen lebte sie den größten Teil ihrer Kindheit, bekam Fürsorge, Sicherheit, Liebe und Umsicht. Schon als Kleinkind war sie täglich morgens bei Oma und Opa abgegeben und abends wieder abgeholt worden. Sie habe an Keuchhusten gelitten, die ganze Nacht musste man sie vor Erstickungsanfällen bewahren. Das hätten die Eltern, beide berufstätig, nicht leisten können oder wollen. Sie mag die beiden auch jetzt noch nicht verurteilen, zeigt Verständnis für dieses Verhalten, das im Grunde eher von Egoismus und Lieblosigkeit zeugt. Ihren Vater hat sie als sympathischen Spinner und Gernegroß in Erinnerung und fügt hinzu: Ihm dauerhaft böse sein, konnte man nicht.

Die Angst
Dennoch: Ihre Erinnerungen an die Zeit nach dem Verbrechen sind die eines Kindes und dessen diffuse Angst vor bösen Menschen. Dem unbewusst klar war, dass etwas ganz und gar nicht normal war in ihrem Umfeld. Als der vom Vater und dessen Geliebten beauftragte und zu zwölf Jahren Haft verurteilte Schütze für ein paar Tage aus dem Gefängnis ausbrach, war es ihre Horrorvorstellung, er könne plötzlich vor der Tür stehen. Es hatte Drohungen gegeben, von ihm oder womöglich von Komplizen, vielleicht auch Trittbrettfahrern. Denn es stand noch das Geld für den Mordversuch aus. Aus heutiger Sicht ist dies nicht mehr zu klären. Erkenntnisse und Einschätzungen sind widersprüchlich. Sie meint sich zu erinnern, dass man damals für den Mord 20.000 D-Mark angezahlt und vereinbart hatte, den Rest nachher zu zahlen. Wozu es ja nie kam.

Wie sehr das Kind damals traumatisiert gewesen sein muss, zeigt diese Erinnerung Nadines: Sie habe sich überlegt, den Killer im Knast zu besuchen, um ihn davon zu überzeugen, dass sie ein nettes Kind sei, dem er sicher nichts tun wolle. Als sie mir das erzählt, berührt mich das vor allem deshalb sehr stark, weil ich den Mann nach seiner Haftentlassung Anfang der 1980er Jahre mehrfach getroffen und interviewt habe. Damals kam er mir in keiner Weise bedrohlich vor. Nadine hat das in ihrer Kindheit anders empfunden, als ich ihr meinen Eindruck schildere, findet sie das sichtlich irritierend.

Außerdem erinnert sie sich, dass immer wieder Zeitungsartikel im Briefkasten gelegen haben, in denen über den Fall Minouche berichtet wurde. So als wollte man die gesamte Familie anonym daran erinnern, dass nicht vergessen war, was da noch frisch in der Erinnerung vieler Menschen steckte. Einmal sei sie in ein Auto gezerrt worden, aber andere Kinder hätten eingegriffen, und nichts sei passiert. Mehrmals hätte man sie weg-, also in Sicherheit gebracht. Warum, vor wem oder wovor erinnert sie sich nicht. Oder hat es ausgeblendet.

Eines wird klar, wenn man ihr zuhört: Der Fall schwebte dauerhaft, einem dunklen Schatten gleich, über der Familie, war allzeit präsent. Ein naher Verwandter, der Bruder ihrer Mutter, hatte aufgrund seiner familiären Verbindungen seine Lehrstelle verloren. Sie selbst merkte in der Schule, dass Kinder sie mieden, meiden mussten: „Einige durften mit mir nicht mehr spielen.“ Anfangs verstand sie nicht, warum, hat aber auch keine schlechten Erinnerungen an ihre Empfindungen. Weil es genug andere Freunde gab. Erst mit zunehmendem Alter wurde ihr klar, was es heißt, mit dieser Art von Prominenz umgehen zu müssen. „Dein Vater ist ein Mörder“, rief man ihr hinterher. Sie hat es heute noch im Ohr.

Beim Vater gearbeitet
Als er 1975 aus der Haft kam, entwickelte sich zu ihm eine bessere Beziehung als zur Mutter. Nadine arbeitete in seinem Bekleidungsgeschäft an der Kaiserswerther Straße. Der Laden im ersten Stock war gleichzeitig Wohnung. Nach und nach kamen weitere Geschäfte hinzu. Die jedoch funktionierten nur, weil die Großmutter als Zentrum der Familie das Business in der Hand hielt. Als diese Frau starb, war es auch mit den Geschäften vorbei, sie gingen pleite. Der Vater starb 2021 an Krebs.

Ob das in die Läden investierte Geld tatsächlich vom Opfer des Anschlags kam – sie bezweifelt es. Ein solches Gerücht hatte es seinerzeit gegeben, weil Nadines Vater im Prozess plötzlich und entgegen anders lautender, früherer Aussagen versucht hatte, alle Schuld auf sich zu nehmen und die Geliebte zu entlasten. Diese Erklärung, so die nie verifizierte Mutmaßung damals, sei von Minouches Mann gekauft worden. Der hatte, von den schweren Schussverletzungen des Mordversuchs genesen, als Zeuge im Prozess stets beteuert, seine Frau sei unschuldig. Wohl, weil er sie vor dem Gefängnis bewahren wollte. Was am Ende gelang.

Nadine hat eine andere Deutung für den Wohlstand des Vaters. Sie glaubt, dass Minouche in Wahrheit schon lange vorher begonnen hatte, ihren Freund mit Geld zu unterstützen. Jedenfalls hatte er, da ist sie sicher, mehr, als er durch seinen Job im Verkauf bei Selbach hätte verdienen können.

Harald
Der Fall hat das Leben dieser Frau geprägt. Sie hat dennoch das getan, was sie für gut hielt, eine Ausbildung im Geschäft des Vaters abgeschlossen und über Jahre dort gearbeitet. Später, als er wieder heiratete, ging der Kontakt auf nahe null zurück – mit seiner neuen Frau kam sie nicht klar. Nadine heiratete sehr jung, bekam einen Sohn (der heute Mitte 30 ist), ließ sich scheiden und traf vor über 30 Jahren Harald. Die beiden lebten zuerst in Deutschland, unter anderem an Nord- und Ostsee, nun sind sie seit Jahren auf Mallorca. Ein Leben mit Höhen und Tiefen, so beschreibt sie es selbst. Harald ist Handwerker, geriet wegen eines zahlungsunfähigen Kunden mal in die Pleite, rappelte sich wieder hoch, gemeinsam mit Nadine. An so etwas kann eine Beziehung zerbrechen, oder sie wird noch stärker. Bei den beiden ist es letzteres.

Manches von dem, was sie erzählt und im positiven Sinne als ihren Hang für den Reiz des Neuen und Unbekannten empfindet, wirkt wie eine Flucht aufgrund des Fehlens einer gewachsenen Basis. Die fand sie erst in Harald, der schon äußerlich Solidität ausstrahlt. Aber geblieben ist ihre selbstgewählte Distanz zu Menschen. Sie tue sich schwer, Freundschaften aufzubauen, scheue eher den Kontakt zu anderen, fühle sich am wohlsten daheim, mit Harald und den Hunden Ole, Pelle und Lilly, in der Finca nicht weit von Can Picafort an der Nordküste der Insel.

Für sie ist diese Zurückhaltung kein Problem, im Gegenteil: Die Frau hadert nicht mit ihrem Schicksal, wirkt mit sich im Reinen, hegt keinen Zorn (mehr) auf die Menschen, die ihr den Horror ihrer Kindheit angetan haben. Aber eins ist immer noch da: das Unverständnis für das Verbrechen, diesen versuchten Mord. Und geblieben ist die Fassungslosigkeit vor der Gleichgültigkeit der Beteiligten angesichts dessen, was das alles bei ihr, ihrer Mutter, ihrem Sohn und anderen Teilen der Familie angerichtet hat. Sie weiß, dass sie nicht verantwortlich für das ist, was geschah. Und daher auch nicht die Tochter eines Mörders. Im Grunde war sie von Anfang an auch Opfer, wenn auch indirekt und sicher nicht geplant.

Alle haben am Ende, trotz aller Dramatik, Glück gehabt, weil die Tat nicht funktionierte: Minouche, ihr Ehemann, Nadines Vater, der angeheuerte Killer. Alle sind inzwischen tot, an Krebs gestorben.

Aber Nadine lebt. Wenn man sie fragen würde, wie ihr Leben ist, würde sie sagen: glücklich.

Weiterführende Links
Die Beschreibung des Falls Minouche lesen Sie hier.

Den Podcast können Sie hier hören.


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