Der letzte Zeuge: Zwei Stolpersteine und ihre Geschichte
„Friedingstraße“: Die Schilder der Haltestelle sehen täglich Tausende – Fußgänger und Autofahrer ebenso wie die Passagiere der Straßenbahnen auf dem Weg vom oberen Teil Gerresheims in den unteren, oder andersherum. Sie flankieren die Benderstraße, die breite Einkaufsmeile des Stadtteils, doch für ihren Namen steht eine schmale Tempo-30-Abzweigung Pate. Da wiederum, wo eben diese Friedingstraße einen Knick macht und in einer Reihe farbenfroh gestrichener Jugendstilreihenhäuser sanft ansteigt, verbirgt sich die Geschichte einer Gerresheimer Familie mit jüdischen Wurzeln: Vor der Nr. 4, einem weißen Mehrfamilienhaus mit Vorgarten und Schieferdach, sind zwei Stolpersteine in den Asphalt eingelassen.
Auf dem einen steht: „Hier wohnte Hans Heidenheim. Jg. 1887. Gedemütigt / entrechtet / versteckt / überlebt.“
Und auf dem anderen: „Hier wohnte Walter Heidenheim. Jg. 1925. Flucht 1944. Schweiz. Abgeschoben. 1944 Buchenwald. Ermordet 1945.“
Um aus erster Hand mehr zu erfahren, muss man nach Lübeck reisen. Dort lebt Till Heidenheim, das letzte noch lebende Mitglied der Familie. Der 92-jährige war vor zehn Jahren bei der Stolpersteinverlegung durch den Künstler Gunter Demnig mit dabei – nachdem er Gerresheim zuvor über Jahrzehnte gemieden hatte. Hans Heidenheim, gestorben 1949, war sein Vater – und Walter Heidenheim einer seiner Brüder.
Seit 1992 sind in Europa mehr als 105.000 Stolpersteine verlegt worden, 372 davon in der NRW-Landeshauptstadt, koordiniert vom Förderkreis der städtischen Mahn- und Gedenkstätte. Till Heidenheim ist einer der wenigen, die noch aus eigener Erfahrung erzählen können, was ihren Familien angetan wurde. Als Düsseldorf 1945 von den Amerikanern befreit wird, ist er 13 Jahre alt. Nach dem Schulabschluss macht er als Kaufmann Karriere in der Filmbranche, zieht 1971 mit seiner Frau Hildegard aus beruflichen Gründen nach Hamburg. Nach Hildegards Tod 2005 geht er nach Lübeck, wohnt seitdem im ersten Stock eines Altbaus im Stadtteil St. Gertrud.
Durch die hohen Fenster des Wohnzimmers fällt der Blick ins Grüne: Der Stadtpark liegt vor der Tür. Schon vor dem Termin hat Till Heidenheim in einer Mischung aus Ironie und rheinischem Humor per Mail angekündigt: „Sie werden hier keinen vergreisten Senior vorfinden. Ich bin weiterhin bemüht, mich weiterzubilden und stehe nach Meinung meiner Freunde und Bekannten mit weitestgehend klarem Verstand im sich ständig verändernden Leben.“ Fürs Interview hat er eine Kanne Kaffee vorbereitet und diverse Fotos und Materialien bereitgelegt. Er nimmt auf dem breiten Sofa Platz. Überall hängen Bilder – sowohl Kunstwerke, als auch Fotos von Angehörigen. Auf dem Tisch liegt ein Smartphone. In seinem Alltag ist Till Heidenheim aktiv im Netz unterwegs, kommentiert auf Facebook, kommuniziert täglich per Whatsapp, E-Mail und telefonisch. „Manchmal klingelt hier mehrmals pro Stunde das Telefon.“ Im Fernsehen schaut er bevorzugt Dokus zu historischen Themen.
Auch mit der Herkunft seiner Familie hat er sich viel befasst, reiste schon nach der Wende nach Sachsen und Thüringen, besuchte die Gräber seiner Vorfahren. Till Heidenheims Vater stammt aus einer jüdischen Chemnitzer Fabrikantenfamilie. Sein Urgroßvater Philip Heidenheim (1814-1906) war Gymnasiallehrer und Rabbiner in Sondershausen.
Hans Heidenheim – „Vati“, wie Till Heidenheim ihn immer noch nennt – verschlägt es als einzigen der Familie ins Rheinland. Nach einer Lehre als Schaufensterdekorateur heiratet er 1912 eine Düsseldorferin. Aus dieser Ehe geht ein Jahr später Sohn Gustav, genannt „Gustel“, hervor, der Jahrzehnte später auch im Leben seines Halbbruders Till noch eine prägende Rolle spielen wird. Hans Heidenheim muss im ersten Weltkrieg als Sanitäter an die Front, wird verwundet, kehrt zurück nach Düsseldorf, lässt sich scheiden – und heiratet 1921 in zweiter Ehe die Schauspielerin Maria Brömme, („Maja“, geb. 1896). Es kommen Hanns Heinz („Hannes“, 1922), Walter (1925) und Helga (1927) zur Welt – und kurz vor Beginn der Nazi-Diktatur: Till.
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