Der Pflegepunk

Vor dem Evangelischen Krankenhaus in Bilk steht ein Schild, auf dem ein fliegender Storch zu sehen ist. Mit seinem Schnabel transportiert er ein Bündel, in dem ein grinsendes Baby liegt. &bdquo;Kurzzeitparken für werdende Eltern“ steht darunter. Der Mann, der ins Spiel kommt, wenn aus dem freudigen Ereignis der Geburt ein Grund zur Sorge wird, betritt das Krankenhaus an diesem Dienstagmorgen um kurz vor 7. David Ortiz Hernandez, 38, fährt mit dem Fahrstuhl in den achten Stock in die Neonatologie. Das ist eine Intensivstation für Neugeborene, die zu früh auf die Welt kommen oder die Geburt nicht schadlos überstehen. Zwei Flure, einige Zimmer für die Kinder, Lager, Küche, Aufenthaltsraum für Eltern. Hernandez ist Leiter des Pflegeteams auf der Station. Ich begleite ihn heute. Wer nur von seinem Äußeren ausgeht, käme trotz des freundlichen Gesichts niemals auf seinen Beruf. Er trägt raspelkurze Haare, zahlreiche Tätowierungen an Armen und Beinen. Auf einem Arm ist das &bdquo;A“ zu sehen, das für Anarchie steht, auf dem anderen ein Beatmungsbeutel. Den hat er sich zum Examen gegönnt. Noch bevor David die blaue Pflegerkluft anzieht, begrüßt er seine Kolleginnen, die in einem großen Raum an einem langen Tisch vor Monitoren sitzen. Darauf sind die Werte der zwei Kinder zu sehen, die momentan auf der Station liegen. Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung des Blutes, Atemfrequenz. Meist haben sie mehr Kinder, aber es ist Sommerloch. Vor sechs, sieben Monaten war Januar, keine Zeit, in der Menschen vermehrt Nachwuchs zeugen. Sonst liegen hier eher fünf bis sechs, sagt David. Wie zum Beweis hängen an einer Schnur Fotos und Karten, die mit Wäscheklammern befestigt sind. Alle zeigen sie Kinder, die mal als Patient:in hier lagen. Sie werden in der Frühschicht heute zu fünft sein: David und vier Kinderkrankenpflegerinnen, eine von ihnen in der Ausbildung. Sie haben nichts dagegen, Schwester genannt zu werden, das machen sie auch selbst. Ihr Chef nennt sich manchmal im Scherz &bdquo;Schwester David“. Das Team besteht aus knapp 30 Pflegekräften, es gibt nur einen weiteren Mann. David überlegt, wer am nächsten Tag Überstunden abbauen könnte. Die vergangenen Wochen waren hart. Doch auch die beiden Kinder, die hier sind, brauchen ihre Aufmerksamkeit. In einem Zimmer liegt ein Junge, der vor wenigen Tagen auf die Welt gekommen ist, in der 32. Woche, 2300 Gramm. Aber er ist aus dem Gröbsten raus, seine Mutter übernachtet bei ihm. Im Nebenzimmer sieht das anders aus. Bis zu seinem 25. Lebensjahr hatte David nicht die geringste Ahnung, dass er Kinderintensivpfleger werden würde. Er ist der Sohn einer Deutschen und eines Spaniers, und beide waren darauf aus, dass David was Vernünftiges macht. Der aber schloss sich in der Heimat Rumeln, einem Stadtteil von Duisburg, lieber der Punkszene an. &bdquo;Ich brauchte irgendwann bunte Haare und hatte auch nur Freunde, die bunte Haare hatten“, sagt er. &bdquo;Nur weil einer eine Grenze in den Sand gezogen hat, ist da keine Grenze. Das zog sich von 14 bis heute durch. Mein Verständnis der Welt hat sich nicht großartig verändert.“ Sein Vater hatte sich zum Chemotechniker bei Bayer hochgearbeitet, der Sohn dachte noch gar nicht an seine Zukunft. Aber David entwickelte früh Engagement für andere Dinge, arbeitete in kirchlichen Jugendgruppen, engagierte sich gegen Nazis, prügelte sich auch mal mit ihnen, ging sprayen. Die Eltern mussten häufiger auf der Realschule vorstellig werden. Er wäre gerne zur Kunstschule gegangen, aber sein Vater meinte nach der zehnten Klasse, er solle erst mal eine Ausbildung machen. Weil David keine Ahnung hatte, was aus ihm werden sollte, beherzigte er den Rat seines Vaters und ging als Chemikant zu Bayer. Geld musste er schließlich verdienen, vor allem, nachdem er in beiderseitigem Einvernehmen früh zuhause ausgezogen war. Chemikant klingt spannender, als es ist, eine Art Fließbandarbeit im Labor. Aus dem, was er herstellte, wurden später CD-Rohlinge und Rückleuchten für BMW. Bis ihm klar wurde: &bdquo;Mir ist es egal, ob der BMW Rückleuchten hat oder nicht. Jeden Tag die gleiche Scheiße.“ Aber gut bezahlte Scheiße. Mit den Arbeitskollegen hatte er nicht viel gemein. Morgens lagen Express und Bildzeitung im Labor. Nicht der richtige Ort für einen Punk. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, in die Pflege zu gehen, wenn seine Schwester nicht eine Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin gemacht hätte. Immer wieder erzählte sie ihm von der Arbeit. Gerade wenn sie von den Notfällen redete, horchte er auf. &bdquo;Dann habe ich mich auf doof als Krankenpfleger beworben.“ Ihm war gleich klar, dass er mit Kindern arbeiten wollte, denn im Gegensatz zu Erwachsenen konnten die überhaupt nichts für ihre Situation. &bdquo;Ein Kind hat es sich nicht ausgesucht, auf die Welt zu kommen“, sagt er. &bdquo;Es war das erste Mal, dass ich mir für etwas den Hintern aufgerissen habe.“ Er war der einzige Mann in seinem Jahrgang. Dass sich da ein volltätowierter Punk um Babys kümmerte, irritierte nur kurz, sagt er, weil die Leute sahen, wie er sich engagierte. &bdquo;Damit räumt man unheimlich viel aus dem Weg an Zweifeln, die durch Optik und Geschlecht aufgekommen sind.“ Zehn Jahre arbeitete er auf der Kinderintensivstation in Kaiserswerth, manchmal fast schon im Akkord, dann warb ihn eine frühere Kollegin für das Evangelische Krankenhaus ab. Als er sich vorstellte, schlug man ihm vor, die Leitung zu übernehmen. Seit April ist er hier. Auf der Station landen meist Frühchen zwischen ab 500 Gramm und der 25. Schwangerschaftswoche. Regulär dauert die Schwangerschaft 40 Wochen. Sie rechnen hier in Wochen, auch in Tagen, nicht Monaten. Das Mädchen, das David mir nun zeigt, ist eine der Patientinnen. Als es auf die Welt kam, war es gerade mal 26 Wochen und ein paar Tage im Bauch seiner Mutter, 29 Zentimeter groß, 610 Gramm schwer. Mehr als ein Monat ist seitdem vergangen. Ich weiß nicht, wie klein Babys unmittelbar nach einer regulären Geburt sind, aber dieses Mädchen wirkt auf mich wie eine sehr zerbrechliche Puppe. Es liegt in einem Einzelzimmer im Brutkasten, auch Inkubator genannt, der den Namen Giraffe trägt. Um die eigene Atmung zu unterstützten, wird es durch die Nase beatmet. Ernährt wird es über eine Sonde, die in den Mund führt. Ziel der Pflege ist es, die Zeit, die das Kind nicht in der Gebärmutter verbringt, zu ersetzen. Der Inkubator hält die Luftfeuchtigkeit hoch, weil die noch nicht vollständig entwickelte Haut sonst austrocknet und sich Risse bilden. Durch die Haut verliert der Körper schnell Wärme, deshalb sorgt der Inkubator auch für eine hohe Temperatur. Er dämpft die Geräusche von außen und sorgt für eine möglichst keimfreie Zone. Die Zeit in der Gebärmutter zu ersetzen, das heißt auch, das Kind möglichst wenig Stress auszusetzen. Stress bedeutet Anstrengung und die verträgt der winzige Körper mit seinen winzigen Organen noch nicht gut. Schädel, Lunge, Darm sind die großen Baustellen. &bdquo;Was kann ich dem Kind zumuten?“ Das ist die Frage, die sich eine Pflegekraft stellen muss, sagt David. Was immer man fürs Kind macht, hat nicht nur Nutzen, sondern auch Nachteile. Nun hat Schwester Karin ihren Einsatz. Karin heißt eigentlich anders, möchte aber namentlich nicht genannt werden. Sie stellt sich an den Inkubator, öffnet zwei Klappen und kümmert sich um das Mädchen. Vorhin noch haben die Kolleginnen David gefragt, ob er heute die Pflege übernehmen möchte. Aber er sagte, Karin habe das schon die ganzen Tage bei dem Mädchen gemacht, dann solle sie es auch heute machen. So ist es auch an der Pinnwand zu lesen, die an der Wand im Flur hängt. Schwester Thea ist einer Eule zugeordnet, auf der der Name des Jungen nebenan steht, Karin mit ihrem Foto dem Frosch, auf dem der Name des Mädchens steht. Dass David es ihr überlässt, finde ich, der Journalist, erst mal nicht so gut, weil ich sehen möchte, wie er mit den Babys umgeht, weil ich darüber schreiben möchte. Später denke ich, dass ihn diese Entscheidung noch besser charakterisiert. Bloß weil die Presse da ist, spielt er sich nicht auf. Es zählt, was für das Kind das Beste ist. Reporter beeinflussen durch ihre Anwesenheit sowieso schon die Realität, wenn sie nicht undercover arbeiten. David aber ist meine Anwesenheit auf eine gute Art egal. &bdquo;Die junge Dame hier ist auf Krawall gebürstet“, scherzt er über das Mädchen. Das heißt, das Herz schlägt gerade ziemlich schnell, knapp 200 Mal in der Minute. Was aber nicht ganz so besorgniserregend ist wie bei einem Erwachsenen, denn Kinderherzen schlagen grundsätzlich schneller, weil sie so klein sind. Zu den großen Herausforderungen für Kinderkrankenpfleger:innen gehört es, dass Babys zwar schreien, sich aber nicht artikulieren können. Sie können nicht sagen, hier tut es weh, mir ist schlecht, aua, Kopfschmerzen. Karin muss das Kind also aufmerksam beobachten und herausfinden, weshalb das Herz so schnell schlägt. Sie lagert es anders. Sie steckt einen winzigen Schnuller in seinen Mund. Sie gibt ihm Flüssignahrung über einen Q-Tip. &bdquo;Saugen beruhigt“, sagt David. &bdquo;So wie ich manchmal eine Zigarette brauche.“ Ein wenig später kommt eine Physiotherapeutin vorbei, bewegt die Beine des Kindes. Das regt die Verdauung an. Die Herzfrequenz geht runter. Noch am Vormittag kehrt Karin mit der Pflegeschülerin zum Brutkasten zurück für eine so genannte Vierhandpflege. Die Pflegeschülerin begrenzt das Kind mit ihren Händen und gibt ihm dadurch Sicherheit, Karin führt die Maßnahmen durch. Ich verstehe nun, warum sich hier so viele Pflegekräfte um so wenige Patienten kümmern wie nirgendwo sonst in einem Krankenhaus. Was bei einem erwachsenen Patienten eine Sache von ein paar Minuten wäre, dauert hier schnell mal eine halbe Stunde. Hier braucht es keine Kraft, sondern Vorsicht. Ein Frühchen verzeiht nicht allzu viele Fehler. Langsam wickelt Karin das Kind. Wäre das Mädchen noch jünger, dürfte sie nicht einfach mal die Beine anheben, das könnte zu Problemen im Bauch und den Organen führen. Sie muss es vorsichtig anfassen, weil die Haut noch so wenig entwickelt ist, dass rasch...

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