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1936: Hanna Zürndorfer (links) am ersten Schultag ihrer Schwester Lotte in Gerresheim. Foto: privat

Düsseldorfs Anne Frank

1939 gelangte die 13-jährige Hanna Zürndorfer in einem der letzten „Kindertransporte“ aus der NS-Diktatur nach England. Jahrzehnte später schrieb sie ein Buch über ihre „verlorene“ Gerresheimer Kindheit und den Neuanfang. Jetzt hat ihre Tochter Düsseldorf besucht. Ich habe sie getroffen.
Veröffentlicht am 13. Dezember 2024

Oktober 2024. Petra Regent sitzt in der Wohnküche einer Altbauwohnung im Stadtteil Derendorf. Ende vergangenen Jahres ist ihre Mutter Karola gestorben – mit 97 Jahren. Und nun besucht die Engländerin Petra Regent die Stadt, in der ihre Mutter als Kind lebte: Karola Regent, geboren 1925, wurde als „Düsseldorfs Anne Frank“ beschrieben (in diesem Video zu sehen), wuchs in einem jüdischen Elternhaus in Gerresheim auf. 1956 heiratete sie Petras Vater Peter Regent, den sie während ihrer Arbeit als Journalistin in Norfolk kennenlernte. Sie nahm dessen Nachnamen an und nutzte fortan ihren zweiten Vornamen. Aus Hanna Zürndorfer wurde Karola Regent. Anfang der 1980er schrieb sie über ihre Kindheit das autobiografische Erinnerungsbuch „The Ninth of November“.  Das Original des Buches erschien ebenso wie die deutsche Übersetzung „Verlorene Welt“ unter ihrem Mädchennamen sowie der Koseform ihres ersten Vornamens: Hannele. 2003 wurde die Grundschule an der Benderstraße in Gerresheim, die sie bis 1936 besuchte, zu ihren Ehren in Hanna-Zürndorfer-Schule umbenannt.

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Die Hanna-Zürndorfer-Schule an der Benderstraße 78 in Gerresheim. Foto: Sebastian Brück

Es duftet nach Kaffee, und auf dem Tisch haben Jürgen Tenbrock und seine Frau Orangensaft sowie kleine Snacks und Gebäck bereitgestellt. Tenbrock (66), ist Historiker und hat sich als Lehrer am Gymnasium Gerresheim in Schülerprojekten intensiv mit der Geschichte des Stadtteils während der NS-Diktatur beschäftigt. Durch sein Netzwerk hat er vom Düsseldorf-Besuch Petra Regents erfahren und zum Gespräch in seiner Wohnung eingeladen.

Regent trägt ein dunkles Oberteil, hat mittellanges, braunes Haar, das locker über die Schultern fällt. Wenn man zuvor Fotos ihrer Mutter Karola Regent alias Hanna Zürndorfer gesehen hat, erkennt man die Ähnlichkeit. Der offene Blick, die freundlich blitzenden, grau-blauen Augen. Die 67-Jährige spricht auch etwas Deutsch, und erzählt im fliegenden Wechsel zwischen Englisch und der Muttersprache ihrer Mutter, wie bewegend der Vortag für sie gewesen ist. Wie sie Jahrzehnte nach ihren ersten beiden Düsseldorf-Besuchen als junge Frau nun wieder vor dem ehemaligen Haus ihrer Familie in Gerresheim stand – an der Sonnbornstraße Ecke Lakronstraße, wo zwei Stolpersteine an ihre Großeltern erinnern. Und wie sie auf Einladung die Hanna-Zürndorfer-Schule besuchte: „Die Kinder haben dort extra einen Tanz für mich einstudiert. Und ich habe eine Führung durch die Schule bekommen, saß in dem Klassenzimmer auf einem Stuhl, in dem auch meine Mutter als Kind unterrichtet wurde.“

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Hanna Zürndorfers Tochter Petra Regent bei ihrem Besuch in Düsseldorf im Oktober 2024. Foto: Sebastian Brück

Auch Hanna Zürndorfer selbst saß nach der Jahrtausendwende bei ihren Gerresheim-Besuchen einige Male im Klassenraum ihrer „verlorenen Welt“, um den Grundschulkindern auf Deutsch Fragen zu beantworten und aus ihrem Buch vorzulesen. In Begleitung ihres Mannes Peter – aber ohne Tochter Petra.

April 1926. Adolf und Elisabeth Zürndorfer wohnen an der Hermannstraße 12 in Flingern – in einer geräumigen Wohnung in der ersten Etage, mit Blick auf den schmalen, mit himmelblauen Hortensien bestandenen Vorgarten. In einem halben Jahr, am Nikolausabend, wird Tochter Hanna, genannt Hannele, ihren ersten Geburtstag feiern. Zu seinem Arbeitsplatz hat es Vater Adolf Zürndorfer nicht weit. Als Direktor der Verlagsanstalt Eduard Lintz ist er am Wehrhahn 28a unter anderem für das Fachblatt „Der Artist“ verantwortlich – das deutsche Zentralorgan der Zirkus- und Varietébühnen. Auch die an den Verlag angeschlossene Druckerei unterhält enge Kontakte zur Kulturszene, druckt im Auftrag des Künstlervereins Malkasten und der Düsseldorfer Theater. In diesem Umfeld fühlt sich Adolf Zürndorfer – Schnurrbart, hohe Stirn, stets in gestreiften Anzug und Krawatte gekleidet – ganz in seinem Element: Seine Liebe zum Theater hat der gebürtige Schwabe entdeckt, als es ihn mit 17 Jahren nach Straßburg verschlug: Eigentlich Buchhalter in einer Seidenfirma, besuchte er im Elsass so viele Aufführungen wie möglich, fand Anschluss an Künstlerkreise und schrieb nebenbei Kritiken für Zeitungen. So wurde Adolf Zürndorfer Theaterkorrespondent für das Hamburger Fremdenblatt und die Frankfurter Zeitung. Und nun feiert er am 25. April 1926 beim Lintz-Verlag bereits sein 25-jähriges Firmenjubiläum.  

Oktober 2024. „Im Nachhinein macht es mich traurig, dass ich bei ihren Düsseldorf-Besuchen nicht an der Seite meiner Mutter war“, sagt Petra Regent. „Dass ich damals so viel mit meinem eigenen Leben beschäftigt war und erst jetzt, nach ihrem Tod, hierherkomme.“ 

Ihre Großeltern Adolf und Elisabeth Zürndorfer hat sie nie kennengelernt. Diese brachten die 13-jährige Hanna und ihre jüngere Schwester Lotte im Mai 1939 im letzten „Kindertransport“ unter, der in Düsseldorf hielt und aus dem Rheinland über die niederländische Grenze fuhr. Bis heute hält die britische „Kindertransport Association“ unter dem Motto „Remembering the Past, Teaching for the Future“ die Erinnerung an die Ausreise von über 10.000 jüdischen Kindern aus dem Deutschen Reich wach. Kinder wie Hanna und Lotte Zürndorfer, deren Eltern zurückblieben.

„Warum haben meine Großeltern nicht viel früher entschieden, dass es Zeit war zu gehen? Und warum sind sie 1941 in den Zug gestiegen, der sie deportierte?“ Petra Regent kennt die Erklärungen, die ihre Mutter in „Verlorene Welt“ festgehalten hat. Trotzdem: „Für mich ist das immer noch unglaublich.“

Mai 1926. Wie immer besuchen die Zürndorfers auch in diesem Monat mehrere Theater- und Opernaufführungen. Sie sind befreundet mit angesehenen Dramaturgen und Schriftstellern wie Karl Röttger, Herbert Eulenberg und Kurt Heynicke sowie mit Gustav Lindemann und Louise Dumont, die als Gründer und Leiter des Schauspielhauses Düsseldorf als Theaterstadt bekannt gemacht machen.

Für Elisabeth Zürndorfer, genannt „Else“, ist die großstädtische Kultur- und Künstlerszene eher neu. Sie ist erst 1924 aus Pirmasens zugezogen, und die Vorgeschichte dazu geht so: Als Adolf Zürndorfer 1901 mit seiner ersten Frau Clara Weinheim nach Düsseldorf übersiedelt, ist Elisabeth gerade erst geboren worden. Clara erkrankt an Tuberkulose, wird zum Pflegefall, und so bleibt die Ehe kinderlos. Clara weiß, dass ihr Mann gerne Vater geworden wäre. 1921 rät sie ihm auf dem Sterbebett: „Wenn du noch einmal heiratest, heirate Else.“ Und so kommt es dann auch: 1924 wird die 23-jährige Elisabeth Dorothea Rheinheimer, die Tochter von Claras Halbschwester, die zweite Ehefrau des 50-jährigen Adolf Zürndorfer.

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1924: Adolf und Elisabeth Zürndorfer bei ihren Flitterwochen in den Schweizer Bergen. Foto: privat

Am 19. Mai widmet sich Adolf Zürndorfer in der Tageszeitung Die Glocke einem Thema abseits seines Spezialgebiets: Normalerweise bespricht er in seinen Artikeln Düsseldorfs Theaterpremieren. Diesmal schreibt über die „GeSoLei“ – jene „Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen“, die noch bis Oktober 1926 am Rheinufer in Düsseldorf ausgerichtet wird. Zürndorfer attestiert der größten Messe der Weimarer Republik eine „einheitliche Geschlossenheit“ und „architektonische Großartigkeit“, wie sie „keine andere Stadt Deutschlands in den letzten zwölf Jahren, vielleicht sogar keine andere Stadt des Kontinents auch nur annähernd zu schaffen“ vermocht habe.

Man könnte sagen: Der Schwabe Adolf Zürndorfer ist längst zum rheinischen Lokalpatrioten avanciert. In jedem Fall ist er ein anerkanntes Mitglied der Düsseldorfer Gesellschaft.

Oktober 2024. Petra Regent, geboren 1957, berichtet, wie sie mit ihrer Mutter als Jugendliche über die Zeit vor und unmittelbar nach dem Kindertransport gesprochen hat: „Das war nicht oft und auch nicht sehr ausführlich. Ich kannte nur die grobe Geschichte.“ Karola Regent habe als junge Frau, wenn sie in England nach ihrer Herkunft gefragt wurde, ihre Wurzeln meist in Skandinavien verortet. „Weil sie keine Lust hatte, jedes Mal die Geschichte ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland erzählen zu müssen.“ So richtig ins Detail gegangen sei ihre Mutter erst, als sie Anfang der Achtziger Jahre begonnen habe, ihre Kindheitsgeschichte niederzuschreiben. „Sie hat das anfangs nur für sich persönlich gemacht als eine Art Therapie – bis ein Freund der Familie meinte, man sollte das als Buch veröffentlichten.“

In „Verlorene Welt“ schildert Hanna Zürndorfer alias Karola Regent auch die zögerliche Haltung ihres Vaters, aus Düsseldorf zu fliehen: „Er liebte Deutschland, seine dunklen Tannenwälder, seine Berge und Täler, seine Literatur und seine Geschichte.“ Daher habe er das „Bedrohliche, das da um ihn herum geschah“ weder wahrhaben können noch wollen.
Petra Regent ergänzt: „Ich glaube, mein Großvater hoffte, die Ghettos im Osten wären eine Art Arbeitslager, aus dem sie früher oder später wieder entlassen würden.“

Januar 1933. Drei Jahre ist es her, seit die Zürndorfers von Flingern ins Eigenheim nach Gerresheim gezogen sind. Das Jugendstilhaus mit Türmchen an der Sonnbornstraße 59 ist mit wildem Wein umrankt. Wie zuvor an der Hermannstraße wachsen auch hier im Vorgarten blaue Hortensien. Die Zürndorfers wohnen im Erdgeschoss, nutzen den hinter dem Haus gelegenen Garten mit einigen Büschen und einem Sandkasten. Vater Adolf inszeniert die Familienfotos hier stets so geschickt, als befände man sich in einem großzügigen Park. Die beiden Etagenwohnungen sowie eine kleine Dachgeschosswohnung vermietet er.

Als Hitler Ende des Monats zum Reichskanzler ernannt wird und die NS-Diktatur ihren Anfang nimmt, hat das auf den Vorort-Alltag der achtjährigen Hanna Zürndorfer, 45 Straßenbahnminuten von Düsseldorfs Zentrum entfernt, zunächst keine Auswirkungen. Als Erwachsene wird sie immer wieder betonen, wie glücklich und unbeschwert die erste Hälfte der dreißiger Jahre für sie und ihre dreieinhalb Jahre jüngere Schwester Lotte gewesen ist: Vom erhöhten Erker in Hannas und Lottes Kinderzimmer geht der Blick auf die Platanen der Lakronstraße. Seit 1932 besucht Hanna morgens die Volksschule an der Benderstraße. Draußen geht sie mit den Nachbarskindern Rollschuhlaufen oder spielt Völkerball. Gerne macht Mutter Elisabeth mit den Kindern Ausflüge an den Weiher im Grafenberger Ostpark, um ein Ruderbötchen zu mieten. Und manchmal kommen Verwandte zu Besuch, etwa Hannas Großeltern oder ihr Onkel Hugo aus Stuttgart. Wenn der im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnete Weinhändler mitten im Satz aufhört zu sprechen oder plötzlich einen starren Blick mit hervorquellenden Augen aufsetzt, dann wird Hanna und Lotte eingeschärft, das zu ignorieren, weil – so die Erklärung – Hugo „im Krieg ein Held“ gewesen sei.   

Jüdische Feste wie Chanukka und Passah feiern die Zürndorfers ebenso wie Weihnachten und Ostern. Für die Kindergeburtstage kauft Adolf Zürndorfer für die Eingeladenen Kuchen, Leckereien und Gebäck im Café Bittner an der Königsallee. Besonders lieben es Hanna und Lotte, mit ihren Laternen im Gerresheimer Martinszug mitzulaufen und sich zur Karnevalszeit zu verkleiden – zum Beispiel als Holländerin oder Rotkäppchen.  

Höhepunkt der Woche sind die regelmäßigen Spaziergänge mit dem Vater am Sonntagmorgen. Sie führen über die nahegelegenen Gerresheimer Höhen, vorbei am Hof Pappendelle über das Rotthäuser Bachtal Richtung Hubbelrath. Adolf Zürndorfer bezeichnete die Landschaft mit ihren Wäldern, Wiesen und Feldern liebevoll als „Gerresheimer Schweiz“. Innig erwartetes Ziel auf halber Strecke ist ein „Zauberbaum“, an dem der Vater, wenn die Kinder gerade nicht hinschauen, in Tütchen verpackte Butterbrote und Lebkuchen an die Zweige hängt. Beim jährlichen Ostersonntagsspaziergang auf den Spuren des „Osterhasen“ versteckt er sogar vorab an verschiedenen Stellen Süßigkeiten und Ostereier im Wald.

Oktober 2024. Durch die vielen Termine hat Petra Regent bislang keine Zeit gefunden, die „Gerresheimer Schweiz“ zu besuchen: „Es wäre schön, dort einmal spazieren zu gehen und sich dabei meine Mutter als kleines Mädchen mit ihrer Schwester und ihrem Großvater vorzustellen.“ Ein bisschen „Gerresheim“ steckt auch in ihrer eigenen, englischen Kindheit: „Als ich klein war, haben wir die Ostereiertradition fortgeführt“, erzählt sie, und man hört Wärme und Zuneigung in ihrer Stimme, während ihre Hände ein imaginäres Osterei formen. „Wie mein Großvater mit meiner Mutter hat auch sie mit mir Osterspaziergänge gemacht und sie hat ebenfalls vorher Ostereier versteckt, die ich suchen musste. Sie hielt dabei einen scheinbar magischen gegabelten Ast, der jedes Mal zuckte, wenn ich näherkam. Das war schön.“

Petra Regent wuchs ab ihrem achten Lebensjahr im schottischen Newport-on-Tay auf, wo ihr Vater Peter Leiter der Abteilung für Geisteswissenschaften am Duncan of Jordanstone College of Art in Dundee wurde. Die künstlerische Ader der väterlichen und mütterlichen Seite zieht sich auch durch ihr Leben: Fürs britische Fernsehen drehte sie Dokumentarfilme mit Wildtieren. Nach ihrer Pensionierung machte sie an ihrem Wohnort Bristol einen Abschluss als Master in Multidisciplinary Printmaking, stellte ihre Kunst aus und nahm an internationalen Künstlerresidenzen teil.  

Petra Regent betont, dass ihre Mutter trotz der schrecklichen Erfahrungen niemals verbittert gegenüber Düsseldorf gewesen sei. Nach dem Krieg habe sie weiterhin per Brief und Telefon (immer in fließendem Deutsch) Kontakt mit Hella Röttger, der Frau des besten Freundes ihres Vaters Karl Röttger, und ihren Kindern Gerda und Rotraud gehalten – später auch mit Gerdas und Rotrauds Kindern Ruth, Dorothea und Judith: „Ich erinnere mich, wie Ruth und Dorothea als Kinder nach Schottland kamen, bei meinen Eltern wohnten und meine Schule besuchten, um ihr Englisch zu verbessern. Meine Mutter erhielt auch Briefe von Lesern ihres Buches, von denen einige Kindheitserinnerungen aus Düsseldorf mit ihr teilten.“

September 1935. Der Reichsparteitag beschließt die „Nürnberger Gesetze“ zur „Reinhaltung der arischen Rasse.“ Jüdische Deutsche zu entrechten und auszugrenzen ist nun juristisch legitimiert. Hanna Zürndorfer wird bald zehn und geht in die vierte Klasse der Volksschule Benderstraße. Sie hat natürlich gemerkt, dass etwas nicht stimmt, dass sich die Stimmung verändert hat: Der früher so sorglos und glücklich wirkende Vater ist nachdenklich geworden, und manchmal unterbrechen die Eltern und ihre Freunde ein Gespräch, sobald Hanna den Raum betritt. Was Adolf Zürndorfer Hanna noch nicht erzählt hat: Als Jude ist es ihm verboten, weiterhin Theaterkritiken zu schreiben, und auch seine Stellung als Verlagsleiter hat er verloren. Nach der Machtübernahme darf er zunächst inoffiziell und zu gekürztem Gehalt weiter beim Verleger Lintz arbeiten, nach Möglichkeit diskret zu Hause, nicht mehr im Büro – bis ihn seine Sekretärin bei den Nazis verpfeift.

Auch die Stimmung auf den Straßen Gerresheims hat sich verändert: Adolf und Elisabeth Zürndorfer werden von vielen nur noch zögerlich gegrüßt, von manchen ganz ignoriert. Die Nachbarskinder laden Hanna und Lotte nicht mehr zu ihren Geburtstagsfeiern ein. „Arische“ Kinder treten der Hitlerjugend (HJ) und dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) bei. Hannas beste Freundin Ella wird von einem BDM-Mädel aufgehetzt und unter Druck gesetzt, traut sich zunächst nur noch heimlich mit ihr zu spielen, später gar nicht mehr. 

An der Benderstraße begrüßen die Kinder ihre Lehrerin zu Unterrichtsbeginn nicht mehr mit „Guten Morgen, Fräulein Räthjen“, sondern mit „Heil Hitler“ und dem „Deutschen Gruß“. Räthjen ist keine Nazi-Anhängerin, kümmert sich um Hanna. Sie bemerkt Hannas Unbehagen und erlaubt ihr, sich dem NS-Ritual zu entziehen.

Oktober 2024. In Düsseldorf wohnt Petra Regent nicht im Hotel, sondern als Gast bei Astrid Ficinus, der ehemaligen Leiterin der Grundschule Benderstraße. Nach der Jahrtausendwende war Ficinus maßgeblich an der Umbenennung in „Hanna Zürndorfer Schule“ beteiligt. Danach blieb sie der Namenspatin freundschaftlich verbunden. „Ich habe Astrid über den Tod meiner Mutter informiert und mit ihrem Mann Frank zur Beerdigung eingeladen. So waren die beiden im Februar 2024 zum ersten Mal Gäste in dem Haus in Schottland, das 56 Jahre lang das Zuhause meiner Mutter gewesen ist.“

Januar 1937. Hanna und Lotte gehen inzwischen auf die neu gegründete Jüdische Schule an der Kasernenstraße. Seit dem Vorjahr sind jüdische Kinder aus den Volkschulen verbannt worden, und auch der Besuch einer höheren Schule ist ihnen verboten. „Fräulein“ Räthjen hat es zunächst geschafft, zumindest die sechsjährige Lotte ihr erstes Volksschuljahr an der Benderstraße in Gerresheim beginnen zu lassen, doch dann beschweren sich die Eltern von Mitschülerinnen, und so sind nun beide Mädchen mit der Straßenbahn jeden Morgen über eine Stunde unterwegs, müssen zwei Mal umsteigen.

An der Jüdischen Schule freundet sich Hanna mit Inge Lewin an, der Tochter eines Rechtsanwalts. Kunstunterricht haben die beiden bei einem Mann, der einen ähnlichen Nachnamen wie Inge trägt – mit „v“ anstelle des „w“: Julo Levin. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten darf der Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie weder malen noch ausstellen. In den 1920er Jahren war er Mitglied der Künstlervereinigungen „Das Junge Rheinland“ und „Rheinische Sezession“. 1938 wird Julo Levin von Düsseldorf nach Berlin gehen und dort an einem jüdischen Gymnasium arbeiten. 1943 ermorden ihn die Nazis in Auschwitz. Aus seiner Zeit als Kunstlehrer an der Jüdischen Schule in Düsseldorf sind mehr als tausend Kinderzeichnungen gerettet worden – unter anderem von Hanna Zürndorfer und ihrer Freundin Inge Lewin. Hanna hat einen Mann mit Karnevalsmaske gemalt (hier beim Stadtmuseum online einzusehen) und Inge drei Freundinnen, die nebeneinander stehen und sich die Arme um die Schultern legen, während am linken Bildrand ein schwarz-abstraktes Etwas die Mädchen zu bedrohen scheint (siehe hier).

Mittlerweile marschieren immer wieder SA-Trupps durch Gerresheim. Düsseldorfs Juden haben keinen Zutritt mehr zu Badeanstalten und anderen städtischen Einrichtungen. Als sich Hanna und Inge an einem sonnigen Winternachmittag verabreden, um mit ihren „neuen Schlittschuhen zur Eisbahn zu gehen“, erwartet sie ein Schild mit der Aufschrift „Für Hunde und Juden verboten“ (Vermutlich handelt es sich um das 1935 eröffnete und damals noch unbedachte Eisstadion an der Brehmstraße). Die beiden Mädchen wagen sich nach dem Motto „Es wird schon keinem auffallen“ trotzdem aufs Eis. Als Adolf Zürndorfer davon hört, schärft er Hanna ein, aus Stolz und Würde nie wieder an Orte zu gehen, wo Juden unerwünscht sind. Dass das Schlittschuhabenteuer auch gefährlich gewesen ist, verschweigt er. Die rassistische Politik der Nazis stellt die Zürndorfers vor eine schwierige Herausforderung: Sie müssen ihre Töchter schützen und gleichzeitig versuchen, sie so wenig wie möglich zu beunruhigen.

Oktober 2024. Petra Regent zeigt alte Schwarz-Weiß-Fotos. Szenen aus der Kindheit ihrer Mutter in Gerresheim: Hanna als Zweijährige, auf einem Korbstuhl sitzend, mit Teddy im Arm. Hanna und Lotte mit ihrem Kindermädchen, verkleidet zu Karneval. Adolf und Elisabeth Zürndorfer, bei ihren Flitterwochen 1924 in den Schweizer Bergen. Vater Adolf Zürndorfer, der im Familiengarten hinter Hanna und Lotte steht und ihnen schützend die Hand auf die Schultern legt. „Wie mein Großvater lächelt“, sagt Petra Regent. „Er war so stolz.“ Sie hält kurz inne. „Dieses Foto bringt mich immer wieder zum Weinen.“

Das nächste Foto stammt aus der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre. Zu sehen ist der engste Freund der Familie Karl Röttger, vor ihm die kleine Hanna Zürndorfer, etwa zwei Jahre alt, eingerahmt von den einige Jahre älteren Kindern des Schriftstellers – Helmut, Gerda und Rotraud.

November 1938. Nachdem Adolf Zürndorfer seine Arbeit verloren hat und ihm durch neue antisemitische Gesetze auch noch die Pension gekürzt worden ist, geraten die Zürndorfers in finanzielle Schwierigkeiten. Sie müssen Wertpapiere verkaufen und einen Teil der Erdgeschosswohnung untervermieten. Willi Karp, ein junger Filmproduzent, zieht mit seiner Frau ein. Neben ihm ist der Schriftsteller und Lehrer Karl Röttger, der um die Ecke an der Friedingstraße wohnt, einer der wenigen Gerresheimer, die sich jetzt noch solidarisch zeigen. Bei Begegnungen auf der Straße zieht Röttger stets zum Gruß den Hut. Und das, obwohl er wegen seiner offen kritischen Haltung gegenüber den Nazis regelmäßig vom Ortsgruppenleiter und späteren Gauinspekteur Alwin Wesch vorgeladen und bedroht wird. Schließlich geht Adolf Zürndorfer seinem Freund Röttger draußen bewusst aus dem Weg, um ihn nicht zu gefährden.

Durch den gemeinsamen Freund Gustav Lindemann wiederum findet Adolf Zürndorfer eine neue, bezahlte Beschäftigung. Lindemann, dessen Frau Louise Dumont 1932 gestorben ist, musste das Schauspielhaus als Sohn eines jüdischen Vaters nach der Machtübernahme der Nazis zwangsverpachten. Nun lebt er unterstützt von einflussreichen Freunden wie Gustaf Gründgens und Ernst Poensgen die meiste Zeit zurückgezogen in Bayern auf dem Land und betraut den Branchenkenner Adolf Zürndorfer damit, in Düsseldorf das umfangreiche Bühnen-Archiv zu ordnen: Alles, was aus der Zeit von 1904 bis 1933 erhalten ist, von Kostümbildentwürfen über offizielle Briefwechsel bis hin zu privaten Objekten. So legt Zürndorfer das Fundament des bis heute bestehenden Dumont-Lindemann-Archivs.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die als „Reichskristallnacht“ bekannt geworden ist, stürmen SA- und SS-Männer die Wohnung der Zürndorfers, bewaffnet mit Äxten und Messern. Sie zerstören gezielt Möbel und bedrohen die Familie. Der Vater versucht, ein wertvolles Gemälde zu retten, während Mutter und Kinder auf dem Bett kauern. Eine Axt verfehlt nur knapp die Matratze. Nachdem der Mob abgezogen ist, sieht Hanna Zürndorfer ihren Vater zum ersten Mal im Leben weinen. Der Untermieter Willi Karp, der mit seiner Frau die abgetrennten Räume im Erdgeschoss bewohnt, kommt hinzu, äußert seine Scham, entschuldigt sich, dass er nicht eingreifen konnte. Später kommt heraus: Der einige Häuser weiter wohnende NSDAP-Funktionär Alwin Wesch hat die Angreifer gezielt informiert. Am Morgen danach steht die Familie fassungslos vor den Trümmern ihres Zuhauses. Abends kommen Karl Röttgers Frau Hella und ihre Töchter Rotraud und Gerda vorbei und bringen Essen, Geschirr und warme Kleider. 

Oktober 2024. Seit ihrer Ankunft drei Tage zuvor ist Petra Regent die meiste Zeit mit der Vergangenheit ihrer Mutter beschäftigt. Auch die Mahn- und Gedenkstätte an der Mühlenstraße hat sie besucht. Gemeinsam mit deren Leiter, Bastian Fleerman, war sie am Alten Jüdischen Friedhof. Auf dem öffentlich nicht zugänglichen Gelände zwischen Möhlaustraße und Ulmenstraße befindet sich die Grabstätte von Clara Zürndorfer, geborene Weinheim (1880-1922), der ersten Frau von Petra Regents Großvater. Zusätzlich erinnert eine in den Boden eingelassene Gedenktafel an Adolf und Elisabeth Zürndorfer.

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Petra Regent beim Besuch des Alten Jüdischen Friedhofs an der Ulmenstraße. Vor ihr: eine Gedenktafel für ihre Großeltern. Links: Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte. Foto: Astrid Hirsch-von-Borries

Zwischendurch ist Petra Regent kilometerweit durch die Stadt spaziert – allein und mit Astrid Ficinus und Jürgen Tenbrock. Sie hat Pflaumenkuchen im Mutter Ey Café gegessen und Fisch an einen Marktstand am Carlsplatz. „Düsseldorf gefällt mir sehr gut.“ Doch natürlich hat Petra Regent einen anderen Blick als eine „normale“ Touristin: „In meinem Hinterkopf ist immer der Gedanke präsent, dass ich Straßen entlanglaufe, die meine Mutter als Kind und bei späteren Besuchen als Erwachsene gegangen ist – ein bittersüßer Beigeschmack.“ In Gerresheim kam ihr die Beschreibung Hanna Zürndorfers aus „Verlorene Welt“ in den Sinn: „Wie meine Mutter eines Tages in Panik von Geschäft zu Geschäft rannte, als die Dämmerung hereinbrach, auf der Suche nach ihrer Mutter.“

Mai 1939. Nach der Pogromnacht verlassen viele Düsseldorfer Juden die Stadt. Auch Adolf Zürndorfer hegt konkrete Ausreisepläne, obwohl er sich mit seinen inzwischen 64 Jahren immer noch schwer mit der Idee anfreunden kann, in einem anderen Land mit anderer Sprache neu anzufangen. Für Hannas Onkel Hugo hat ihr schon mit 17 Jahren in die USA ausgewanderter Onkel Max Zürndorfer bereits die Einreisebürgschaft geleistet. Auf der Durchreise macht Hugo mit seiner Familie Station in Gerresheim, erzählt wie er den Nazis am 9. November zum Schutz der Familie und der Wohnung sein Eisernes Kreuz vorgehalten hat und dafür brutal zusammengeschlagen worden ist.

Schweren Herzens entscheiden sich Adolf und Elisabeth Zürndorfer, ihre Töchter Hanna (13) und Lotte (9) per Zug nach England zu schicken, wo Onkel Ala und Tante Rosel wohnen. Sobald die nötigen Papiere da sind und in Düsseldorf alles geregelt ist, wollen die Eltern nachkommen. Adolf Zürndorfer schreibt zum Abschied ein Gedicht in Hannas Poesiealbum. Auf der Fahrt zur Küste hält der Zug in Rotterdam. So hat Hanna die Chance, am Bahnsteig kurz ihre (durch Adolf Zürndorfer per Brief informierte) Freundin Inge Lewin aus der Jüdischen Schule zu sehen. Inge hat Düsseldorf mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bereits einen Monat zuvor verlassen und wartet in Rotterdam auf die Ausreisegenehmigung nach Kuba, wo der Vater der Familie ausharrt.

Was Hanna erst nach dem Krieg von Hella Röttger erfährt: Ihr Vater ist am Düsseldorfer Hauptbahnhof kurzentschlossen auf das anfahrende Zugende aufgesprungen und heimlich bis zur niederländischen Grenze mitgefahren, um sicherzugehen, dass seine Töchter Deutschland tatsächlich verlassen.

Oktober 2024.  Wie Petra Regent zu ihrem in England eher untypischen Vornamen gekommen ist? „Meine Eltern hat die historische Stadt Petra im heutigen Jordanien inspiriert, außerdem das Drama Ein Volksfeind von Henrik Ibsen.“ Das gesellschaftskritische Stück des norwegischen Autors handelt vom Konflikt zwischen individueller Wahrheit und öffentlicher Meinung. Petra, die Tochter des Protagonisten, ist Lehrerin und möchte Journalistin werden. „Sie verteidigt ihren Vater gegen den Hass des Mobs.“

Auch Hanna Zürndorfer alias Karola Regent arbeitete bis zur Geburt ihrer Tochter Petra als Journalistin: „Nach ihrem Englisch-Studium am Bedford College in London machte sie ab 1952 bei den Zeitungen Eastern Daily News und Estern Daily Press in Norfolk eine journalistische Ausbildung und lernte dort meinen Vater kennen.“ Als Journalistin schrieb sie unter anderem Theaterkritiken – wie ihr Vater Adolf.

„Bei ihren Düsseldorf-Besuchen hat sie sich oft mit neuem Lesestoff eingedeckt, inklusive einiger Bände aus der Nesthäkchen-Reihe, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte.“ 

Oktober 1941. Zwei Jahre lang haben Adolf und Elisabeth alles versucht, um die eigene Emigration voranzutreiben: Im August 1939 bewilligen die Behörden den Passantrag für die Ausreise nach England, die wiederum durch den Überfall der Wehrmacht auf Polen und den damit beginnenden Zweiten Weltkrieg verhindert wird. Ihr Haus müssen die Zürndorfers weit unter Wert an einen „arischen“ Eigentümer abgeben. Gegen Miete „gestattet“ dieser ihnen, in die Dachgeschosswohnung zu ziehen. Mit ihren Töchtern können sie nicht mehr direkt, sondern nur noch vage und mit großer Zeitverzögerung über den in den USA lebenden Onkel kommunizieren: Max Zürndorfer leitet die Nachrichten dann nach England weiter. Über „Onkel Max“ erhalten die Zürndorfers 1941 die nötigen Papiere für eine Einreise in die USA. Doch der Gestapobeamte Georg Pütz verhindert durch kleinliche Schikanen die Ausreise. Im Juni 1941 werden alle diplomatischen Vertretungen im Deutschen Reich geschlossen. Theoretisch ist zu diesem Zeitpunkt als Ausweg immer noch eine Schiffspassage nach Kuba möglich. Letztlich sorgt der Nachbar und NSDAP-Gauinspekteur Alwin Wesch mit dafür, dass die Eheleute für den am 27. Oktober 1941 vom Güterbahnhof Derendorf abgehenden Zug ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) eingeteilt werden. Karl und Hella Röttger sind vor der Deportation – ungeachtet der Gefahr, in die sie sich begeben, – mehrere Nächte an der Seite der Zürndorfers. Adolf Zürndorfer stirbt am 25. April 1942, angeblich „an Herzschwäche“ (ein üblicher Tarnbegriff für einen gewaltsamen Tod). Elisabeth Zürndorfer wird aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Chelmno gebracht und dort am 8. Mai 1942 ermordet. Karl Röttger stirbt im September des gleichen Jahres, desillusioniert und verzweifelt, drei Tage nachdem er vom Tod seines Freundes Adolf Zürndorfer erfahren hat.

Oktober 2024. Petra Regent erzählt vom Beginn der Corona-Zeit, als ihre Eltern immer kränker und gebrechlicher wurden: „Ich bin regelmäßig die 800 Kilometer von Bristol nach Schottland gefahren, um mich um sie zu kümmern.“ Im Oktober 2021 starb ihr Vater Peter. Hanna Zürndorfer alias Karola Regent wiederum starb im Dezember 2023, vier Tage vor ihrem 98. Geburtstag.  „Ich habe meine Mutter bis zum Ende begleitet. Kurz bevor sie ging, summte sie das deutsche Wiegenlied Schlaf Kindchen Schlaf, das ihre Mutter ihr als Kind immer vorgesungen hatte.“

Sommer 1948. Die 22-jährige Londoner Studentin Hanna Zürndorfer besucht Düsseldorf in den Semesterferien – zum ersten Mal nach dem Krieg. Weil eine jüdisch-englische Lehrerin ihre Schulgebühren übernahm, hat sie in England weiter zur Schule gehen und ihren Abschluss an einer „Secondary School“ machen können. Mit ihren Deutsch-Kenntnissen hat sie das “Ministry of Economic Warfare” als “Research Assistant” unterstützt.  Für die „Control Commission“ der Briten nach Deutschland zu gehen und weiter Karriere im Staatsdienst zu machen, hat sie abgelehnt. Zu frisch ist die Wunde, die ihr der Verlust der Eltern und Großeltern zugefügt hat (Jenny und Emanuel Rheinheimer wurden 1942 im KZ Treblinka ermordet).

In Gerresheim trifft sich Hanna Zürndorfer mit Hella Röttger und erhält wertvolle Familiendokumente zurück, die ihre Eltern den Röttgers zur Aufbewahrung anvertraut hatten. Im von Kriegsschäden vernarbten Düsseldorf fühlt sie sich unwohl, denkt bei jedem, den sie auf der Straße sieht, wie er oder sie sich wohl am 9. November 1938 verhalten hat. Lange steht sie vor ihrem ehemaligen Elternhaus an der Sonnbornstraße, betrachtet stumm die äußerlich unversehrte Fassade. Die Tochter der neuen „Eigentümer“, die ihnen in Bombennächten den Zugang zum schützenden Keller verwehrten, wohnt immer noch dort.

In einem Interview erinnert sich Hanna Zürndorfer viele Jahre später aber auch an „eine wunderbare Begegnung“. Als sie auf der Hardt in Gerresheim an der Straßenbahnhaltstelle wartet, steht dort neben ihr eine andere junge Frau: ihre einstmals beste Freundin aus der Volksschule Benderstraße. Ihre Blicke treffen sich – und sie erkennen sich wieder.

„Bist du die Ella?“ – „Bist du die Hannele?“

Dennoch wird es Jahrzehnte dauern, bis Hanna Zürndorfer ihre Geburtsstadt erneut besucht.

Oktober 2024. Rund 85 Jahre, nachdem Hanna Zürndorfer fliehen musste, gibt es in ihrer Geburtsstadt nicht nur eine Grundschule, die ihren Namen trägt. Es gibt die Stolpersteine vor ihrem Elternhaus an der Sonnbornstraße in Gerresheim. Es gibt das im Theatermuseum untergebrachte Dumont-Lindemann-Archiv, für das Adolf Zürndorfer die grundlegende Basisarbeit leistete. Es gibt das Julo-Levin-Ufer im Medienhafen, im Gedenken an Hanna Zürndorfers Kunstlehrer an der Jüdischen Schule. Es gibt den Karl-Röttger-Platz im Stadtteil Mörsenbroich, benannt nach dem mutigen engsten Freund der Familie, sowie eine Gedenktafel an seinem einstigen Wohnhaus an der Friedingstraße. Und es gibt das Buch „Verlorene Welt“, in dem Hanna Zürndorfer ihre Geschichte erzählt – in der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1988, verantwortet von Rotraud Weissbecker, eine der beiden Töchter Karl Röttgers.

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Gerresheim: Das ehemalige Haus der Familie Zürndorfer an der Sonnbornstraße/Ecke Lakronstraße. Foto: Sebastian Brück

Zürndorfer Stolpersteine
Die Stolpersteine vor dem Haus Sonnbornstraße 59. Foto: Sebastian Brück

Die Verbindungen zwischen den Familien bleiben bestehen: Nach ihrem Besuch in Düsseldorf hofft Petra Regent auch auf ein Treffen mit einigen der Enkel von Karl Röttger.

Weiterführende Informationen

Das Buch: „Verlorene Welt. Jüdische Kindheit im Dritten Reich“ von Hannele Zürndorfer erschien im Friedrich-Verlag in einer verkürzten, für den Schulunterricht bestimmten Version (vergriffen). Das Original (200 Seiten) wurde 2007 von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf wiederveröffentlicht und ist antiquarisch im Netz zu finden. Auf dem YouTube-Kanal der Mahn- und Gedenkstätte sind drei als Hör-Version eingesprochene Folgen mit aus dem Buch stammenden Erinnerungen von Hannele Zürndorfer abzurufen.

Inge Lewin, Hannas Freundin aus der Jüdischen Schule, konnte letztlich mit ihrer Familie in die USA emigrieren. 2010 berichtete Hanna Zürndorfer in einem Interview, sie stünden in Briefkontakt. 

Auf VierNull war 2024 bereits über das Schicksal einer weiteren jüdischen Familie aus Gerresheim zu lesen – in einer Kolumne („Der letzte Zeuge. Zwei Stolperseine und ihre Geschichte“) und einem Interview („Wie die Düsseldorfer Kino Geschichte nach dem Krieg neu begann“), basierend auf einem Treffen mit dem ehemaligen Gerresheimer Till Heidenheim.

Karl und Hella Röttger wohnten an der Friedingstraße in Gerresheim nur ein paar Häuser neben den Heidenheims. Der 93-jährige, schon lange in Lübeck wohnende Till Heidenheim kann sich bis heute gut an seine Nachbarn erinnern. Im letzten Kapitel von Hanna Zürndorfers Buch „Verlorene Welt“ ist auch kurz von Till Heidenheims Vater Hans die Rede. Zürndorfer zitiert aus einem Ende 1945 an sie gerichteten Brief von Hella Röttger: „(…) Erinnert Ihr Euch noch an Herrn Heidenheim, der unten in der Friedingstraße wohnte? Er sollte im September 1944 noch verschickt werden, hat sich aber bis zur Befreiung unserer Stadt am 17. April 1945 in seiner Wohnung verborgen gehalten. Kein Mensch hat etwas bemerkt. Bei den schweren Bombenangriffen und bei der Artilleriebeschießung mußte er allein in der Wohnung bleiben. Das Haus wurde schwer beschädigt, aber er blieb gesund …“

Haus von Karl Röttger Friedingstraße
Das ehemalige Wohnhaus von Karl und Hella Röttger an der Friedingstraße 19a. Foto: Sebastian Brück
 

Weitere Quer-Verbindungen: Willi Karp, der in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre als Untermieter mit seiner Frau in die Wohnung der Zürndorfers einzog, eröffnete nach dem Krieg an der Grabenstraße 13 die Willi Karp Film GmbH, wo wiederum Till Heidenheims Schwester Helga für einige Jahre als Disponentin arbeitete. Und auch Till Heidenheim, ebenfalls lange Jahre in der Filmbranche tätig, und Willi Karp hatten beruflich immer wieder mal miteinander zu tun.

NSDAP-Funktionär Alwin Wesch, maßgeblich für die Deportation von Adolf und Elisabeth Zürndorfer verantwortlich, kam nach 1945 zunächst in amerikanische Kriegsgefangenschaft, anschließend aufgrund seiner Beteiligung an der Judenverfolgung in Internierungshaft. Im Zuge der gerichtlichen Ermittlungen gegen ihn wurde auch Till Heidenheims Mutter Maria Heidenheim befragt. 1947 kam er frei und starb 1980 (Bundesarchiv-Link zur Entnazifizierungsakte). Ein weiterer Täter, der „Exekutivbeamte“ im „Judenreferat“ der Düsseldorfer Gestapo Georg Pütz, der die Ausreise von Hanna Zürndorfers Eltern verhinderte, tauchte zunächst unter, wurde dann festgenommen und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl als Judenhasser bekannt und an allen Düsseldorfer Deportationen in die Konzentrationslager beteiligt, kam er 1952 auf Bewährung frei. Danach blieb ihm der Polizeidienst verwehrt, ansonsten lebte er unbehelligt bis zu seinem Tod 1971 (Bundesarchiv-Link zur Entnazifizierungsakte).


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