Diagnose Blutkrebs: Wie ein Arzt plötzlich als Patient kämpfen muss
Corona hat ihm womöglich das Leben gerettet. Weil Dietrich Baumgart sich im Februar 2021 impfen, aber bei der Wahl des optimalen Impfstoffs sicher sein will, macht der Kardiologe und Internist von sich selbst ein Blutbild. Eigentlich Routine. Tausende solcher Auflistungen der verschiedenen Werte hat er bei seinen Patienten gesehen und Schlüsse für weitere Behandlungen daraus gezogen. Daher ist ihm beim Blick auf die eigenen Zahlen sofort klar: Da stimmt etwas nicht. Die Werte der Blutkörperchen sind ungewöhnlich, da muss Klärung her. Symptome gibt es nicht, er fühlt sich gesund und fit, aber er bittet einen Hämatologen um Begutachtung. Nach einigen Tests ist klar: Baumgart droht, an Leukämie zu erkranken. Die Ärzte raten zu einer Stammzellentransplantation. Der 61-Jährige weiß um die Schwierigkeiten und Chancen dieser Therapie, aber schätzt sie ebenfalls als beste Möglichkeit ein. Es gibt keine echte Alternative, darin ist er mit seinen Ärzten einig.
Also beginnt die Suche nach einem Spender. Seine Schwester wird getestet, kommt aber mangels ausreichender Übereinstimmung nicht infrage. Nun merkt der fachkundige Patient erstmals, welche Rolle die Psyche spielt: Dass ihm die eigene nahe Verwandte nicht helfen kann, frustriert ihn und verursacht ein Stimmungstief. Er lernt außerdem, wie völlig anders jetzt seine Rolle ist – später wird er sagen: Ich habe die Seiten des Bettes gewechselt, bin jetzt Patient und nicht mehr nur Arzt. Das ist nicht nur ein Vorteil. Denn: Dass er mehr weiß als andere, macht ihm mehr Sorgen als Hoffnung.
Nun beginnt die Suche nach einem Fremdspender. Dem Menschen also, der an der richtigen Stelle eine Art genetischer Zwilling ist. Baumgart hat Glück im Unglück: Die Suchkriterien seiner Gene sind vergleichsweise unkompliziert, ein Spender sollte schnell gefunden sein. Tatsächlich findet man drei Wochen später einen jungen Mann, bei dem das Bild passt. Die Transplantation wird vorbereitet. Inzwischen ist die Krankheit auch zu spüren, Bluttransfusionen helfen, aber die Infektionsgefahr steigt. Staunend erkennt der nun persönlich betroffene Fachmann, wozu der menschliche Körper fähig ist, mit wie wenig er auskommen kann. Aus dem Mediziner ist ein Kranker geworden, der – eine bedrückende Erfahrung – abhängig ist vom Können und Engagement der gesamten Klinik-Crew. Anders als Laien begreift er jedoch, was um ihn herum passiert. Die Zahlen auf den Bildschirmen am Bett sind für ihn nicht ein Gewirr von Informationen, sondern klare und in diesem Fall beunruhigende Botschaften – sie verheißen oft nichts Gutes. Er sieht Risiken auf Schlaganfall oder Hirnblutungen und andere Gefahren. Er lernt: Selbst Mediziner zu sein, ist nicht von Vorteil. Und wie alle anderen von einer tödlichen Krankheit getroffenen Menschen hofft er, am Ende zu den Gewinnern zu gehören.
Schließlich kommt der 11. Juni 2021 – die Vorbereitung für die Transplantation beginnt, die sechs Tage später nach bangem Warten stattfindet. Wochenlang ist der Patient nun schon vorsichtshalber isoliert, direkter Kontakt zur Familie ist verboten. Nach der Übertragung der Stammzellen passiert erstmal gar nichts. Obwohl er es besser weiß, hat Baumgart auf sofortige Wirkung gehofft, aber die gibt es nicht. In seinem Buch vergleicht er es mit dem Einsähen von Rasen: Es dauert, bis die ersten Keime sprießen.
Wieder sind die Prognosen richtig. Es wird einige Tage dauern, bis Sie was spüren, wird ihm gesagt. Und tatsächlich: Nach einiger Zeit merkt er, wie es langsam besser geht. Kleinste Übungen – allein Aufstehen vom Bett – werden zum Erfolgserlebnis, der erste Spaziergang über den Klinikflur dankbar registriert. Am Ende kehren die Lebensgeister zurück, es geht zurück nach Hause. Aber von einem Leben wie vorher ist Baumgart noch weit entfernt. Aus dem Haus haben potenzielle Infektionsquellen zu verschwinden – Pflanzen, Vorhänge, Teppiche, Felle müssen raus, bei der Ernährung gibt es strenge Vorgaben: Salat, Joghurt, Käse und rohes Fleisch sind (Bakterien, Schimmelpilze!) lebensgefährlich. Ausgerechnet industriell hergestellte Tiefkühlpizza ist okay.
Am Ende wird alles gut, und Baumgart lernt, mit der traumatisierenden Erfahrung umzugehen. Neue Gedanken, jenseits von Hightech-Medizin und Wissenschaft beschäftigen ihn: „Es bleibt ein letztes Stück, das wir Menschen nicht im Griff haben, und das verleiht uns und mir im Besonderen eine große Portion Demut vor der Kraft, die alles zusammenfügt und mir in diesem Fall ein neues Leben geschenkt hat.“
Er nennt es „das Göttliche“.
Bezug
Das Buch kombiniert, für Laien verständlich, eine Fülle von Details über Leukämie und deren Behandlung mit persönlichen Erfahrungen und Empfehlungen:
Prof. Dr. Dietrich Baumgart
Blutkrebs besiegen
Weltbild-Verlag
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