Einkaufszettel – intimer als Liebesbriefe
Ein Besuch im Supermarkt mit Sven-André Dreyer ist keine schnelle Nummer. Er hat vielmehr ein Vor- und ein Nachspiel. Niemand weiß das besser als seine beiden Töchter, die entsprechend ungern mit ihm einkaufen gehen. Ihr Vater sammelt Einkaufszettel. Wann immer er im Discounter oder auf dem Wochenmarkt unterwegs ist, lässt Dreyer Blicke über den Boden rund um die Kassenbereiche schweifen, scannt die ineinandergeschobenen Einkaufswagen sowie Parkplätze und Bürgersteige rund um die Läden. Und das sehr gewissenhaft, vor wie nach dem Einkauf.
Alles begann in einem Frankreichurlaub vor zwei Jahren. Familie Dreyer kam abends an, und der Zeltplatz, auf dem sie nächtigen wollte, war hoffnungslos überfüllt. Eine Rezeptionistin schrieb ihnen Alternativen in der Nähe auf. „Eine herrliche Handschrift, noch dazu in einer Fremdsprache“, erinnert sich Dreyer. Den Zettel behielt er auch, nachdem er keine Funktion mehr hatte, weil die Unterkunft für die besagte Nacht längst gefunden, der Frankreichurlaub längst beendet war.
Zuhause in Düsseldorf legte er das Papier auf seinen Schreibtisch und betrachtete es ab und zu. So begann die Auseinandersetzung mit dem Thema Handschrift. Dreyer fragte sich, „was in unserer durchdigitalisierten Welt überhaupt noch mit der Hand geschrieben wird“ und kam auf die Einkaufszettel. Seitdem sucht er sie gezielt, wie ein Pilzsammler, wie ein Perlentaucher. 150 Exemplare der handgeschriebenen Erinnerungsstützen umfasst seine Sammlung mittlerweile.
Manchmal erregt er bei der Suche Aufmerksamkeit. Zum Beispiel, wenn er mehrere Dutzend Einkaufswagen aus der Abstellanlage herausziehen muss, weil im hintersten Wagen ein neues Exponat für seine Sammlung auf ihn wartet. Ein Schriftstück, das, dessen ist er sich bewusst, nicht für seine Augen gemacht ist. „Anders als beispielsweise ein Liebesbrief, der einen zweiten Menschen physisch und inhaltlich erreichen soll, dienen Einkaufszettel ausschließlich dem Verfasser selbst. Man könnte also sagen, dass sie noch intimer sind als Liebesbriefe.“
Durch den Einkaufszettel eröffne sich dem Betrachter ein Blick in das Leben eines ihm unbekannten Menschen. Ein bisschen sei das so, als würde man eine fremde Postkarte lesen. „Die Zettel verraten wahnsinnig viel über das Leben und die Lebensgewohnheiten der Schreibenden.“ Wie sieht die Handschrift aus? Wie ist der Zettel strukturiert? Gibt es orthografische Auffälligkeiten und Besonderheiten? Was wurde eingekauft und in welchen Läden? Welches Schreibgerät wurde verwendet, welches Papier? Ein weites Feld für Interpretationen, aber auch Spekulationen. Neben dem Zettel selbst, sei im Übrigen auch der Fundort aufschlussreich.
Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.
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