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Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Ein Abhängiger konsumiert seine Droge. Dafür hat er 20 Minuten Zeit. Sonst kann er verlängern. Foto: Andreas Endermann

Erstmal überleben

Koks, Heroin, Crack. Im Drogenkonsumraum dürfen die Abhängigen so ziemlich alles spritzen und rauchen, was sie mitbringen. Nicht obwohl, sondern gerade weil Drogen großer Mist sind. Ich habe den Menschen und denen, die dabei auf sie achten, einen Vormittag zugeschaut.
Veröffentlicht am 1. März 2023

Krass. Krasskrasskrass. So müsste ich eigentlich auf den Mann reagieren, der nur wenige Meter vor mir sitzt und sich eine Spritze in den Unterarm gesetzt hat. Bloß eine Glasscheibe trennt uns. In der Spritze ist Kokain. Kokain zu spritzen ist noch gefährlicher, als Kokain zu schnupfen. Wirkt schneller und heftiger. Blut rinnt seinen Arm hinunter, verzweigt sich. Ich sehe zum ersten Mal, wie jemand eine illegale Droge konsumiert, abgesehen von kiffenden Freunden. Aber trotzdem ist meine Reaktion nicht „Krass“. Ich denke bloß: „Okay, da hat sich gerade jemand Kokain gespritzt.“ Müsste ich nicht entsetzt sein?

Donnerstag, 16. Februar, ein Vormittag in der Drogenhilfe Düsseldorf. Nur wenige Meter entfernt vom Worringer Platz, bei dem wir alle das Wort „Szene-Treffpunkt“ immer mitdenken. Ich sitze in einem Glaskasten, den man sich wie eine Pforte in einem Krankenhaus vorstellen kann. Der Glaskasten trennt mich vom Drogenkonsumraum, in dem Abhängige verbotene Substanzen nehmen, vor allem Heroin, Koks und Crack, wobei Crack zum Rauchen aufbereitetes Kokain ist. Die Idee hinter dem Konsumraum in Kurzform: Die Abhängigen nehmen es sowieso, dann lieber hier unter sauberen Bedingungen. Später mehr dazu.

Im Glaskasten sitzen auch drei Mitarbeiter:innen der Drogenhilfe, Christine Keisers, Nicole Kiesel und Marcel Salomon. Christine, 38, hat heute den Hut auf, das heißt, sie gibt sozusagen die Pförtnerin. Eine gelernte Krankenschwester und Sozialarbeiterin, die über ihre eigene Abhängigkeit, das Rauchen, sagt: „Nikotin ist die dümmste Droge, es hat nicht mal eine Wirkung.“ Nicole, 40, ist gelernte Rettungsassistentin und verteilt saubere Spritzen. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, einzugreifen, wenn jemand zusammenklappt, was im Schnitt alle zwei Wochen passiert. Marcel, 34, stellt sich selbst als Service-Kraft vor, was bedeutet, dass er durch sein Mikrofon Ansagen macht, wenn ein Klient, so nennen sie die Abhängigen hier, lange genug im Raum gesessen hat. Das kann er auf seinem Monitor ablesen. Diese Mischung aus Sanftmut und Freundlichkeit kann vielleicht nur jemand wie er mitbringen, der vor vier Jahren noch als IT-Techniker gearbeitet hat und sich dann fragte, ob es nicht noch was anderes gibt. Seitdem studiert er soziale Arbeit.

Man muss sich das so vorstellen: Da kommt also jemand herein, meist ein Mann, Christine begrüßt ihn durchs geöffnete Schiebefenster. Es wird geduzt. Hallo, sagt sie, und fragt ihn, was er nehmen möchte. „Weiß drücken?“ oder „Braun rauchen?“ Weiß steht für Kokain, braun für Heroin. Dann muss der Abhängige die Droge zeigen. Erstens, weil die Mitarbeiter:innen eine Statistik führen. Zweitens, weil er nicht zu viel konsumieren soll. Drittens, weil er aber schon etwas dabei haben muss und sich nicht bloß aufwärmen will oder einen anderen nach Drogen fragen möchte. Es gibt schließlich nur 17 Plätze, davon sind 7 erst im Dezember dazugekommen. Christine trägt den Namen im Computer ein, ab dann läuft die Zeit. Wer raucht, hat 20 Minuten, wer spritzt, 30. Spritzen ist schließlich aufwändiger. Am zweiten Fenster wartet Nicole. Die hält vorgepackte Butterbrottüten mit Desinfektionsmittel und Pflaster bereit, außerdem Spritzen mit unterschiedlich großen Nadeln, Alufolie, auf denen später Drogen zum Rauchen erhitzt werden, Chemikalien zum Aufkochen der Drogen, Venen-Abbinder. Das bekommen die Klienten kostenlos, nur für Crackpfeife und Feuerzeug müssen sie zahlen.

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Einer der Vorteile im Drogenkonsumraum: Es gibt saubere Spritzen in vielen Größen. Foto: Andreas Endermann

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Wenn die Crackpfeifen ausgegangen sind, lässt sich hiermit ein Ersatz basteln. Foto: Andreas Endermann

Durch die Tür geht die Person in den eigentlichen Drogenkonsumraum, in dem sich Lüftung und Ambient-Musik vermischen. Sie probieren hier gerade aus, ob diese Musik die Leute beruhigt. Der Raum wird durch Glasscheibe und Tür geteilt. Links sitzen die Abhängigen, die sich die Droge spritzen, rechts die Raucher. Die Trennung hat weniger mit dem Qualm zu tun als mit der Geselligkeit der Raucher. Die Leute, die sich den Stoff spritzen, sind lärmempfindlich. Die Tische sind aus blankem Metall. Auf jedem Platz steht ein kleiner Zylinder, ebenfalls aus Metall, in den die Leute ihren Müll legen. Der landet später in einem speziellen Abfallbehälter, der sich nicht mehr öffnen lässt, wenn er einmal verschlossen wurde. Nach dem Konsum müssen die Klienten ihren Platz reinigen. Alles ist verspiegelt, außerdem übertragen Kameras Aufnahmen in den Kontrollraum. Nichts soll verborgen bleiben. Nur fürs Spritzen in die Leiste darf man sich hinter einen Sichtschutz stellen.

Für 2022 verzeichnet die Statistik 71.000 Konsumvorgänge, 693 Männer und 112 Frauen. Die Verteilung muss nicht repräsentativ sein. Frauen nehmen tendenziell andere Drogen, zum Beispiel Tabletten. Sie konsumieren als Prostituierte bei ihren Freiern. Oder sie trauen sich nicht hierher wegen der vielen Männer. Christine sagt, es gebe Studien, die besagen, Männer seien anfälliger für Drogensucht.

Bis zum Mittag sitze ich im Kontrollraum. Für Christine, Nicole und Marcel ist es ein Arbeitstag wie immer. „Man kann sich irgendwann nicht mehr vorstellen, dass man es ungewohnt fand“, sagt Christine. Aber wie ist das für mich, der so etwas noch nicht gesehen hat?

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Christine Keisers von der Drogenhilfe hat den Hut auf im Kontrollraum. Marcel Solomon hat ein Auge darauf, dass die Klient:innen nicht zu lange sitzen bleiben. Foto: Andreas Endermann

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Über den Monitor haben die Mitarbeiter:innen der Drogenhilfe alles im Blick. Auf der Alufolie wird zum Beispiel Heroin erhitzt, um es zu rauchen. Foto: Andreas Endermann

Ich sehe den Mann, der sich das Kokain spritzt und dem das Blut den Arm herunterrinnt.

Ein anderer Mann sagt: „Weiß drücken.“ Einen anderen fragt Christine: „Was möchtest du machen? Braun rauchen?“ Zu noch einem Mann: „Du machst braun und weiß? Brauchst du ein Pfännchen oder Löffel zum Kochen?“ Viele Klienten kommen mehrfach an diesem Vormittag vorbei. Die Sucht prägt den ganzen Tag. Sie beschaffen sich Geld, kaufen, konsumieren, gehen wieder raus, beschaffen sich wieder Geld. Einigen sieht man schon am Gesicht an, dass die Drogen sie zerstören, aber bei vielen wäre ich nie darauf gekommen, dass sie abhängig sind. Es gibt Leute, die haben noch eine Wohnung und einen Job. Bei manchen weiß ich nicht: Ist das ein Mitarbeiter der Drogenhilfe oder ein Klient? Ein Typ, dem man es so gar nicht ansieht, zieht es so straight durch, als sei es das normalste der Welt. Aber nach dem Konsum läuft er unruhig durch den Raum, macht sich die Haare mit Wasser zurecht. Die Leute reagieren unterschiedlich auf Drogen. Christine sagt, manche kratzen sich, weil sie Insekten unter der Haut vermuten. Andere fühlen sich verfolgt.

Ein Mann fragt, ob er durchgehen könne. „Wenn du nichts mehr brauchst.“ Er sagt: „Ich bin wunschlos glücklich.“ Einen fragte Christine: „Alles okay bei dir?“ Er sehe schlecht aus. Der Mann will sich lieber die Alufolie am Automaten vor der Drogenhilfe kaufen, weil die schon geknickt ist, nicht so wie die Alufolie, die er hier bekommt. So wirklich versteht Christine das nicht, lässt ihn aber machen. Wenig später kehrt er zurück, um Heroin zu rauchen. „Alles okay bei dir?“, fragt Christine noch mal. Das ist eben auch möglich, wenn die Leute zum Konsumieren hierher kommen: Danach zu schauen, wie es ihnen geht.  Ihr gehe es nicht gut, sagt eine der wenigen Frauen zu Christine. Sie hat Zahnschmerzen, kommt gerade aus einer abgebrochenen Entgiftung. Jetzt erst mal Heroin rauchen. Ein Klient fragt Nicole, welches Haarfärbemittel sie benutzt. Bald gehen die Crackpfeifen aus, der Raucherbereich ist voll.

Reden wir über den Elefanten im Raum. Ist das nicht eine ziemlich fragwürdige Idee, Abhängigen auch noch einen Ort zu geben, an dem sie ungestört ihre lebensgefährlichen Drogen nehmen können? Führt das nicht dazu, dass die Leute noch mehr Drogen nehmen? Dass es sogar Süchtige aus anderen Städten anzieht? Und ist das überhaupt legal?

Der Drogenkonsumraum wurde 2006 eröffnet, nach langer Diskussion, eben aufgrund der genannten Befürchtungen. Er ist sieben Tage pro Woche geöffnet, um 20 Uhr ist der letzte Einlass. Der Raum gehört zur Abteilung „Überlebenshilfe“. Es geht hier nicht schon um den Entzug, sondern erst mal darum, dass Menschen nicht noch weiter abstürzen. Darum, dass sie überhaupt mal mit Leuten in Kontakt kommen, die ihnen helfen können. Damit sie so allmählich Vertrauen fassen. Die Leute von der Drogenhilfe sagen: Die Abhängigen nehmen die Drogen sowieso. Dann besser hier, wo sie saubere Spritzen bekommen und jemand für sie da ist, wenn sie zusammenklappen. „Harm Reduction“ heißt das Konzept, zu deutsch: Schadensbegrenzung. Die Situation ist ohnehin schon scheiße für die Leute, da soll es nicht noch beschissener werden. Sie machen den Abhängigen hier keine Vorwürfe, bedrängen sie nicht. „Akzeptierende Hilfe“ nennt sich das. Irgendwann mal lässt sich vielleicht über einen Entzug sprechen „Bevormundung kommt bei keinem gut an. Die Klienten wollen nicht noch einen Ort, wo sie auf Ablehnung stoßen“, sagt Nicole.

Der Gesetzgeber räumt die Möglichkeit ein, einen solchen Drogenkonsumraum zu schaffen. Allein in NRW existieren elf. Aber es gibt auch in Düsseldorf einige klare Regeln: Weil das Angebot nicht dafür sorgen soll, dass jemand überhaupt erst in seine Sucht rutscht, dürfen hier nur Menschen konsumieren, die schon lange abhängig sind. Deshalb führen die Mitarbeiter:innen mit jedem Klienten ein Aufnahmegespräch. Gewalt gegen andere führt zu einem mehrmonatigen Hausverbot. Es gibt Vereinbarungen, unter anderem mit der Polizei. Wer auf dem Gelände der Drogenhilfe dealt, wird der Polizei gemeldet. Die macht hier keine Razzien, das wäre kontraproduktiv, auch wenn die Trefferquote bei 100 Prozent läge. Der Konsum wird sozusagen geduldet. Wobei der Konsum illegaler Drogen nicht verboten ist, dafür aber alles andere: Erwerb, Verkauf, Besitz. Um Drogen zu nehmen, muss man sie erst mal erwerben und besitzen. Rechtlich ist das alles nicht so einfach.

Es gibt Momente an diesem Vormittag, da habe ich den Eindruck: Das geht hier schon ein bisschen so zu, als würden Leute 15 Minuten auf der Sonnenbank bestellen oder ein Rezept beim Arzt abholen. Aber auch darum geht es: Keine große Sache daraus machen, denn sonst würden sie ja doch nicht hierherkommen. Würden wieder draußen konsumieren, vielleicht umkippen, vielleicht sterben. Hier im Konsumraum ist noch keiner gestorben, sagen die Leute von der Drogenhilfe. Doch obwohl hier alles so routiniert wirkt, denke ich zu keinem Zeitpunkt: Geil, jetzt mal Heroin spritzen. Ich sehe doch, wie die Sucht die Leute vor sich hertreibt. Ich sehe doch ein 17-jähriges Mädchen, das am Vormittag zweimal herkommt, um Heroin zu spritzen. Nicht illegale Drogen werden hier normalisiert, sondern der Umgang mit Drogenabhängigen. Das ist vermutlich der Grund, warum ich diesen Ort nicht krass, nicht bedrückend finde. Niemandem wäre geholfen, wenn hier alle ein betroffenes Gesicht machten oder pausenlos die Hände über dem Kopf zusammenschlügen. The drugs don’t work, sang Richard Ashcroft mal. Aber irgendwo müssen sie das Zeug ja nehmen.

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Wenn’s brenzlig wird, helfen die Mitarbeiter:innen. Gestorben ist im Drogenkonsumraum bisher niemand. Foto: Andreas Endermann

Wäre es, wenn die Leute hier schon ungestört konsumieren können, nicht auch besser, illegale Drogen kontrolliert freizugeben? Das Verbot hat schließlich nicht dazu geführt, dass die Probleme verschwunden sind. Ich komme mit Christine darauf zu sprechen, als ich sie nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol frage. Es ist Altweiber. Gerade schießen sich einen Kilometer entfernt tausende Menschen ab. Alkohol ist die am stärksten verbreitete Droge, aber sie ist gesellschaftlich akzeptiert. Man muss schon sehr viel Alkohol trinken, um ausgegrenzt zu werden. Und an Karneval gibt es überhaupt keine Grenze. Doch wer Heroin nimmt, der wird ausgegrenzt, unabhängig von der Menge.

Christine sieht die Allgegenwart von Alkohol kritisch. Sie sagt aber nicht, dass Heroin oder Crack genauso einfach erhältlich sein müssten. Dass die Grenzziehung zwischen einer illegalen und einer legalen Droge willkürlich wäre. Ein Genusstrinker ist denkbar, denke ich. Einer, der sich für den Genuss nach Feierabend mal Heroin spritzt, eher nicht. Aber Christine ist für eine kontrollierte Abgabe harter Drogen. In ihren Augen bringt es wenig, einen Stoff zu verbieten. Die Leute werden ihn sich sowieso beschaffen, weil ihre Sucht es verlangt. Sie erlebt es täglich. Anstatt Probleme zu lösen, schafft ein Verbot neue. Die Illegalität führt zur Stigmatisierung der Süchtigen, zu hohen Preisen und mangelnder Qualitätskontrolle. Gesundheitsaufklärung betreiben Dealer sicherlich auch nicht. Eine kontrollierte Abgabe bisher illegaler Drogen könnte Vorteile bringen, ohne zu mehr Abhängigen zu führen. Das ist die Hoffnung der Menschen von der Drogenhilfe.

Suchtprävention muss viel früher einsetzen als mit einem Verbot, sagt Christine. Mit guten frühkindlichen Angeboten, Unterstützung für Familien. Hingegen sind Einsamkeit, Traumatisierung, fehlende Berufsperspektiven nicht förderlich, auch nicht ein Rechtssystem, das Abhängige ins Gefängnis steckt, sagt sie.

Gegen Mittag verlasse ich den Drogenkonsumraum und spreche noch eine Weile mit Patrick Pincus, 37, dem Leiter der Überlebenshilfe. „Drogenkonsumraum ist eine andere Welt“, sagt er. Aber er sei schon so daran gewöhnt, dass er bei einem offenen Bein Spaghetti mit Tomatensoße essen könne. „Übertrieben gesagt.“ Wir reden über die Vorbehalte, die Leute gegen den Konsumraum haben und hatten. So sagt er über die vermeintliche Sogwirkung auf Abhängige aus anderen Städten: „Manche schaffen es nicht mal vom Worringer Platz hierher.“ Auch die kontrollierte Abgabe ist Thema. Irgendwie kann ich mir das immer noch nicht so recht vorstellen. Also fragt er mich: „Würden Sie Heroin nehmen, wenn es freigegeben wäre?“

Weiterführender Link

Die Webseite der Düsseldorfer Drogenhilfe ist hier zu finden: www.drogenhilfe.eu

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Am Automaten vor der Drogenhilfe können sich die Abhängigen saubere Spritzen ziehen. Foto: Andreas Endermann

Drogenkonsumraum der Drogenhilfe Düsseldorf
Ein Pfännchen zum Aufkochen gibt’s auch. Foto: Andreas Endermann

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