Alle sind nackt – und wir reden über Avocados

In den 80er Jahren, als ich acht Jahre alt war, geschah etwas Ungewöhnliches in der Nachbarschaft. Eines Sommermorgens wurden wir von zwei Leuten überrascht, die einfach nackt durch die Straße gingen, was für einen ungeheuren Tumult sorgte. Offenbar hatte man die Tür zu einem der Zentren für psychisch Kranke in der Stadt offen gelassen. Von all den Reaktionen, die ich an diesem Tag wegen der Nacktheit dieser Leute miterlebt habe, erinnere ich mich bis heute am besten an die von zwei alte Damen, die einen kleinen Süßigkeitenstand hatten und in der Nachbarschaft als inbrünstige Gläubige bekannt waren. Entsetzt über die &bdquo;Sünde“ begannen sie zu beten und um ihren Stand herum Weihwasser aus einer kleinen Glasflasche, die sie immer bei sich trugen, zu spritzen. &bdquo;Man muss sich von der Gegenwart des Bösen reinigen“, kommentierte eine von beiden. &bdquo;Ja,ja, Nacktheit ist Teufelszeug“, antwortete die andere. Ich muss gestehen, dass es nicht die Nacktheit war, die mich überraschte, denn mein Vater, der in diesem Moment bei mir war, hatte mir bereits die Anatomien des menschlichen Körpers erklärt. Was mich wirklich beeindruckte, waren die Freiheit und das Selbstvertrauen, mit denen diese Menschen herumliefen. Sie sahen so sorglos aus, ohne Schuldgefühl, ohne diese Scham und ohne die Last, die berühmte &bdquo;Sittsamkeit“ zu wahren. In meinem kindlichen Gehirn blieb die Gleichung &bdquo;Nacktheit plus Wahnsinn gleich Freiheit“ eingraviert. Die Jahre vergingen und ich dachte, dass ich eine weltoffene Frau geworden wäre. Eine Frau, die all diese Scham und Schuldgefühle über den Körper, die von der Religion und den Zwängen der Gesellschaft Limas auferlegt wurden, überwunden hatte. Aber Jahre später wurde mir das Gegenteil bewusst. Da betrat ich zum ersten Mal die Sauna eines bekannten Fitnessstudios, das sich damals im Einkaufszentrum Düsseldorf Arcaden befand. Meine Vorbereitung auf eine solche Erfahrung hatte, ohne dass es mir bewusst wurde, zwei Monate zuvor in der Damengarderobe desselben Fitnessstudios begonnen. An einem Feiertag, nach einem Tag mit Tanz und körperlichen Übungen an den Geräten, entschied ich mich, im Fitnessstudio zu duschen. Zu meiner großen Überraschung fand ich heraus, dass die Duschen gemeinsam benutzt wurden. Unvorstellbar, wo ich herkomme, denn dort sind Duschen für Frauen Einzelduschen, also voneinander durch Wände, Vorhänge oder Türen getrennt. In Peru wird der Frau bis heute beigebracht, mit ihrem Körper sittsam zu sein, auch im Beisein des gleichen Geschlechts. Also habe ich gewartet, bis sich die Gemeinschaftsdusche leerte. Dann ging ich schnell hinein. Ich rechnete aber nicht damit, dass eine Gruppe von Teilnehmerinnen aus dem Zumbakurs, die in den Fluren geblieben waren und sich unterhielten, im selben Moment auch hereinkam. Das war definitiv ein Duscherlebnis, bei dem ich nicht nur meinen Körper reinigte, sondern auch gezwungen war, mit meinen Vorurteilen aufzuräumen. Zwei Tage später erzählten mir die anderen Kursteilnehmerinnen im Scherz, wie beschämt ich gewesen war, als sie hereinkamen. Ich brauchte ein paar Tage, um mich von diesem Schock zu erholen und diese Erfahrung zu verarbeiten. Wenig später fragte ich mich dann, ob es nicht eine gute Idee wäre, auch die Sauna auszuprobieren. Ich wusste, dass es im Fitnessstudio zwei Arten von Saunen gab, eine gemischte und die andere nur für Frauen. Ich entschied mich, mit den Frauen zu beginnen, weil ich mich sicherer fühlte. Und so beschloss ich dann gegen 17 Uhr, in die Sauna zu gehen. Als ich sah, wie Frauen dort durch eine Tür ein- und ausgingen, nahm ich an, dass dies die Sauna war, die ich suchte. Als ich aber dort eintrat, wurde mir blitzartig klar, dass ich in der &bdquo;falschen“ Sauna war. Das war das gemischte Dampfbad und nicht die &bdquo;nur für Frauen“. Was ich sah, war für meinen immer noch rückwärtsgewandten, schlichten lateinamerikanischen Verstand etwas Surreales. Nackte und halbnackte Menschen befanden sich hier, entspannt und selbstbewusst. Sie waren glücklich und lachten, als wäre es eine Party. Ebenfalls mit großen Augen sah ich am Eingang eine kurvige Dame, wie aus einem Gemälde des kolumbianischen Malers Fernando Botero, die mit einer &bdquo;be-nei-dens-werten“ Sicherheit halbnackt auf einem der Majolika-Sitze lag. Die Stille und Konzentration, die in den anderen Bereichen des Fitnessstudios zu beobachten war, gab es hier nicht. Für ein paar Sekunden geriet ich in einen Verweigerungszustand. &bdquo;Das passiert dir nicht, Karina, das passiert dir nicht…“, sagte ich mir. Aber doch, es passierte. Während ich mit einer Hand fest nach dem Handtuch griff, das meinen Körper umhüllte, und mit der anderen nach meiner Wasserflasche, erinnerte ich mich in diesem Moment an das Fläschchen mit Weihwasser, mit dem die beiden alten Damen am Süßigkeitenstand den Teufel erschreckten, als ich ein Mädchen war. Ich war nicht darauf vorbereitet, so viele unbekannte Menschen nackt und halbnackt zusammen zu sehen. Aber die Frau neben dem Eingang gab mir die Sicherheit, die ich brauchte, um zu bleiben. &bdquo;Und jetzt, wo soll ich denn jetzt hinschauen? Nach oben? Nach unten? In die Augen?“ In einem Land, wo es für alles Bedienungsanleitungen gibt, haben Sie nicht daran gedacht, eine Bedienungsanleitung zu schreiben, um Latinas zu warnen und über diesen Super-Kulturschock aufzuklären? Nein, natürlich nicht. Es muss Spaß machen, unsere Gesichter voller Panik und Verzweiflung zu sehen, nicht wahr? Ich entschied mich für den &bdquo;verlorenen“ Blick oder wie Udo Lindenberg sagt, den &bdquo;zum Horizont“. &bdquo;Los, Karina, verlorener Blick zum Horizont", sagte ich mir. Dann atmete ich tief ein, streckte meinen Körper und begann weiter hineinzugehen, leicht auf den Fußspitzen laufend, um meine 160 Zentimeter Körperlänge ein wenig zu vergrößern. Plötzlich, ohne es zu wollen, wurde ich unerwartet von einer hektischen Gruppe von Menschen in ein Dampfbad getrieben, wo jeder auf einen Mann wartete, der einen weißen Bademantel trug. Er hatte ein mit Wasser gefülltes Holzgefäß und eine Art Löffel, wie zum Suppeservieren. Ich weiß nicht, was dieser Mann getan hat, der so viel Hitze und Dampf im Raum erzeugte, dass ich es dort nicht mal eine Minute aushielt. Als ich wieder zu Atem kam, sah ich, dass es auch andere Räume gab, ohne Dampf. Also beschloss ich, einen davon zu betreten. Ups! In diesem Raum waren alle völlig nackt. Als ich mit Sandalen den Raum betrat, erklärte mir eine sehr nette alte Dame, dass ich sie draußen lassen müsse und dass ich ein Handtuch auf das Holz legen müsse, um mich setzen zu dürfen. Das einzige Handtuch aber, das ich hatte, war das, in das ich eingewickelt war. Also, Karina, der Moment der Wahrheit war gekommen und es gab kein Zurück mehr. Während ich mein Handtuch abstreifte und auf den Sitz legte, kam mir die Gleichung aus meiner Kindheit in den Sinn: &bdquo;Nacktheit plus Wahnsinn gleich Freiheit“. Und ja, in diesem Moment fühlte ich mich frei und ohne Scham, wie die Menschen, die ich als Kind nackt die Straße entlanglaufen sah. Dann war alles einfacher, ich entspannte mich und fühlte mich wohl in meinem Körper, in dieser Umgebung, die wie eine Lounge aussah, wo die Leute sich so freundlich unterhielten, dass im Raum nur noch ein paar Drinks und Musik fehlten, um ihn zu vervollkommnen. Am Ende habe ich dort sogar einem jungen Mann, der im Logistikbereich eines bekannten Supermarkts arbeitete, erklärt, wie man Avocados schneller reifen lassen kann. Schon komisch, in der Sauna über Avocados zu reden.

Alle sind nackt – und wir reden über Avocados

Alle sind nackt – und wir reden über Avocados

Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.

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