Nachbarn wollen das Ende der Niederkasseler Dorfschänke
Um zu beschreiben, um was es in dem erwähnten Streit geht und warum das so nur in Niederkassel passieren kann, muss ich zuerst die Örtlichkeit beschreiben:
Düsseldorf hat 50 Stadtteile, jeder hat seine Eigenheiten. Aber dieser hier ist sehr speziell: Niederkassel. Gelegen zwischen Oberkassel und Lörick, direkt am Rhein, ursprünglich dörflich und von Landwirtschaft geprägt. Das jedoch ist lange her. Wo früher Deutz-Traktoren tuckerten, gleiten heute Limousinen, Kombis und SUV durch enge Sträßchen. Aus Feldern kleiner Bauernhöfe wurde Bauland, Grundstücke – wenn sie denn verkauft werden – kommen für ein paar tausend Euro pro Quadratmeter auf den Markt. Neulich wechselte ein Stück Acker für mehrere Millionen den Besitzer. Ab und zu werden Häuser abgerissen, die lediglich wenige Jahrzehnte auf den Dachpfannen haben. Weil der Grund, auf dem sie stehen, Abriss und Neubau locker zum guten Geschäft machen.
Die dörfliche Idylle ist perfekt gestylt. An Details ist, aber erst auf den zweiten Blick, erkennbar wie wenig prekär die Bauherren sind. Türen in derzeit schicker matter Optik, die Deko in den Fenstern oder auf den Stufen zum Eingang kommt nicht aus dem Tchibo-Katalog. Alles ist auf eine dezente Art unübersehbar und versendet die Botschaft des Wohlstands, den die Eigner stolz präsentieren. Sind Gartenmöbel sichtbar, erkennt der Kundige Roche Bobois, Garpa, Piu Uno oder andere Marken höchster Güte. Ikea? Fehlanzeige. Wer sich in dieser begehrten Wohnlage niederlässt, hat es geschafft. Jedenfalls finanziell. Die Nachfrage nach Wohnraum ist hoch, in den Stadtteil zogen in den letzten Jahren zahlreiche Neubürger.
Den Newcomern ist eine schnelle Assimilation extrem wichtig. Wie die Alteingesessenen sind sie bemüht, Traditionen hochzuhalten und wollen so auf jeden Fall zeigen, nun dazuzugehören: Beim Schützenfest feiern alle gemeinsam im Festzelt unterhalb der Theodor-Heuss-Brücke, und im Karneval lädt die Tonnengarde zu einem Event namens Schürreskarrenrennen ein. Das Dorf ist jeweils komplett auf den Beinen, tausende Besucher kommen von außerhalb und bejubeln ein Spektakel, das in anderen Bezirken schwer vorstellbar wäre: Ein volles Fass wird auf einer Schubkarre so schnell es geht von A nach B bewegt und darf möglichst wenig Flüssigkeit verlieren. Heute ist es Wasser, früher war es Jauche. Das ist urig, das ist original, das ist dörflich, so wollte man schon immer mal leben. Landleben light, sozusagen, schaumgebremst und ohne die lästigen Sachen wie Geruch, Kuhscheiße vor dem Haus oder morgendliches Gekrähe des Hahns nebenan.
Steht das Oktoberfest an, wird das Dirndl oder die teure Lederhose á la Loden Frey in shabby chic für ein paar tausend Euro bestellt. Da will man dem großen Vorbild in München in nichts nachstehen und lässt sich nicht lumpen. Anders als in Oberkassel ist der Stadtteil nebenan, obwohl es der Name nahelegen könnte, in keiner Weise „niederer“, er ist nur anders. In Oberkassel dreht man mit dem Wiesmann, dem Porsche oder dem Maserati-Geländewagen seine langsamen Runden um den Barbarossaplatz. Im kleineren Schwesterstadtteil ist fürs Posen erstens kein Platz und zweitens würde das als unpassend empfunden, deshalb steht der Luxus-Schlitten still in der mit feinem Kopfstein gepflasterten Einfahrt. Direkt neben dem 6000-Euro-Elektro-Lastenrad, mit dem man samstags beim Bio-Laden chemiefreie Zuckerschoten fürs kalorienarme Thai-Curry einkauft. Weil man ja so ursprünglich und bodenständig ist. Das drückt sich auch in der Kleidung aus: Oberkassel ist aufgebrezelt, Niederkassel die Adresse für (gern abgewetzte) Barbour-Jacken, Aigle-Stiefel und sockenfreie Füße in Tods-Slippern.
Das alles ist die Kulisse für die Story, die dort gerade abläuft: Mittendrin und fürs Gemeinsamkeitsgefühl wichtig liegen die neuerdings bedrohte Dorfschänke und ihr Biergarten. Eine Kneipe wie aus dem Bilderbuch, seit mehr als 100 Jahren im Viertel nicht wegzudenken. Innen erstaunlich wenig edel (was man aber gerade deshalb besonders schick findet), draußen ziemlich rustikal zusammengeschraubtes Mobiliar unter einer großen Kastanie. Ein paar Stehtische, aus Terrassendielen gefertigt, mit Aschenbecher für die Raucher. Kübel mit Grünzeug sorgen für ein bisschen Deko und hübschen die Location auf, die man im Viertel sehr schätzt.
Das jedoch gilt nicht für ein paar Nachbarn, die seit wenigen Jahren in der Nähe wohnen. Ihr erklärtes Ziel: die Kneipe und vor allem der Biergarten müssen weg. Weil sie angeblich Lärm verursachen. In weit über 300 Anzeigen seit Juli vorigen Jahres laufen Bewohner eines benachbarten Hauses Sturm gegen das Lokal. Höchst detailliert beschreiben sie, was sie stört. Bis 22 Uhr darf der Biergarten geöffnet sein, eine Sekunde später steht er unter verschärfter Beobachtung, und jede noch so kleine Verfehlung wird dokumentiert und den Behörden als Störung angezeigt. Immer wieder rückten daher Mitarbeiter des Ordnungsamts an, ermahnten den Gastronomen, kontrollierten den Anlass der Beschwerde – mit mageren Ergebnissen. Zulässige Dezibelgrenzen wurden nicht überschritten, heißt es. Sechsmal ging der Streit jeweils vor Gericht, aber auch dort gab es keine klaren Entscheidungen. Die Richter stellten die Verfahren jeweils ein, sagt der Anwalt des Wirts.
Aber die Beschwerdeführer geben nicht auf. Wenn das Personal nach 22 Uhr noch Tische abräumt, wird das als Störung angesehen. Bleiben Gäste vor ihren halbvollen Gläsern sitzen, und zwar – so der Wirt – ohne jedes Geräusch, wird das umgehend zur Anzeige gebracht.
Als bei einem Fortuna-Spiel Fans – lange vor 22 Uhr – ihren Verein feiern, moniert der Nachbar lautes Grölen und will eine Art „Rülps-Wettbewerb“ gehört haben. Insgesamt sei der Auftrieb anlässlich des Spiels nicht zumutbar, offenbar plane der Wirt, sein Lokal zu einem Fortuna-Fan-Treff zu machen. Dagegen werde er auf jeden Fall vorgehen. Dem Gastronom wirft er mangelnde Zuverlässigkeit vor und fordert die Behörde auf, ihm die Erlaubnis für das Betreiben des Lokals zu entziehen.
Im Dorf regt sich Widerstand. Mehrere Niederkasseler haben angekündigt, sich ihre Dorfschänke nicht wegnehmen lassen zu wollen. Allerdings geht deren Protest auch illegale Wege: Vor der Tür des Hauses des Beschwerdeführers wurde ein Schweinekopf niedergelegt. Seitdem hat der Staatsschutz ein Auge auf die Vorgänge.
Mit den Beschwerdeführern Kontakt aufzunehmen, gestaltet sich schwierig. Als ich um ein Gespräch bat, um die Position der Gegenseite zu hören, kam von dort keine Antwort, dafür von einer Kölner Anwaltskanzlei. Darin werde ich aufgefordert, schriftlich meine Fragen einzureichen und auf Fristwahrung zu achten.