Nobelrestaurant und Eckkneipe: Eine Kreuzung, zwei Welten
Aperitif
Sebastian, Jae
Für mich gibt es zwei Arten von Restaurants: In dem einen gibt man seine Jacke, eher noch seinen Mantel, am Eingang ab. In dem anderen ist es üblich, die Jacke über die Stuhllehne zu hängen. Das ist das Restaurant, in das ich normalerweise gehe. Im „Jae“ bittet eine Frau um meine Jacke, kaum, dass ich es betreten habe. Die Frau wird sich später als Sommelière herausstellen, die den Namen Emiko Fukuzawa trägt. Es ist ein Mittwoch im Februar, 19.30 Uhr. Gerade habe ich Christian ins Kepler-Eck verabschiedet, die Kneipe, die genau gegenüber an der Keplerstraße liegt. Unser Plan: Wir werden beide den Abend nur wenige Meter voneinander entfernt verbringen, aber in mutmaßlich völlig unterschiedlichen Welten. Unter dem Pullover trage ich ein Hemd, um nicht sofort aufzufallen. Frau Fukuzawa weist mir einen Platz an der Theke zu. Der Gast sitzt hoch und sieht dem Chefkoch Jörg Wissmann und seinem Assistenten bei der Arbeit zu. In der Mitte steht ein Tisch, auf dem die Gerichte zusammengebaut werden, in der Ecke der Herd. Wissmann, ein 40-Jähriger, der weiße Sneaker zu seinen Jeans trägt, hat für das Düsseldorfer Restaurant „Agata’s“ vor einigen Jahren einen Stern erkocht und vor wenigen Wochen sein eigenes Restaurant eröffnet.
109 Euro wird das vegetarische Menü kosten, das ich bei der Reservierung bestellt habe. Es ist nicht so, dass ich kein Fleisch esse, aber dann hätte ich 40 Euro mehr bezahlt. In meinem Kopf ist jedes Hauptgericht, das mehr als 20 Euro kostet, der reinste Luxus. Schon weil ich, jedenfalls in der Theorie, Kommunist bin. Also mindestens links. Ich bin auch nicht mit feiner Küche aufgewachsen und finde es eher befremdlich, dreistellige Beträge für ein Menü zu bezahlen. Essen gehen hieß in meiner Familie Pizzeria, Pommesbude und während des Nordseeurlaubs einmal in ein Fischrestaurant. Es waren Restaurants mit seitenlangen Speisekarten. Im Jae gibt es keine Karte, nicht mal für die Getränke.
Ich versuche, mich etwas näher an die Theke heranzuziehen. Schon deshalb verstehe ich hohe Stühle nicht. Im Hintergrund läuft sphärische Popmusik von der Art, dass man sie auch gleich ausstellen kann. Die Sommelière, über die ich später recherchiere, dass sie auf Instagram Emi_Weinhouse heißt, was ich lustig finde, bringt mir einen Aperitif. Alkohol trinke ich nicht, also gießt sie mir einen teuren Fruchtsaftsprudel ein. Neben mir an der Theke sitzt ein älteres Paar. Wir sind zu sechst im Raum. Weitere Reservierungen liegen heute nicht vor, und eine Reservierung ist Pflicht. Ich bin mir sicher, dass ich mit meiner Ahnungslosigkeit gleich auffliegen werde.
Christian, Kepler-Eck
Was im Kepler-Eck einmal an der Wand hängt, bleibt dort. Das sehr alte Telefon, die abenteuerliche Verkabelung, die kleinen Fächer eines Sparklubs, zwei Spielautomaten, drei Fernseher, die das Pokalspiel Nürnberg gegen Düsseldorf zeigen, die Wochenkarte, auf der für jeden Tag vier Getränke zu einem besonders günstigen Preis angeboten werden. Alkoholfrei ist keines davon. An diesem Mittwoch ist Jägermeister-Korn-Ouzo-Apfelkorn-für-1,50-Tag.
Wegen des Fußballspiels ist das Kepler-Eck sehr gut besucht. Zwei größere Gruppen stehen um die Tische herum an den Fernsehern, auch alle anderen Plätze sind besetzt. Ich wundere mich, dass ein norddeutsches Bier hier mit Abstand das meistbestellte ist, dann sehe ich neben der Wochenkarte das „Fortuna-Angebot“: Ab 30 Minuten vor Anpfiff eines Spiels der Düsseldorfer bis 30 Minuten nach dessen Ende kostet das Bier in der Bügelflasche zwei Euro.
1. Getränk: Flensburger Pilsener
Für mich bleibt nur ein Stehplatz. Für mein Bier entdecke ich immerhin die Ecke eines Tischs. Ich frage die Frau, die dort sitzt, ob ich es abstellen darf. Sie hält den Blick unverändert auf den Fernseher und deutet ein Nicken an. Vor ihrem Geldbeutel und ihrer Zigarettenpackung steht eine Stofffigur von Maulwurf Grabowski.
Außer meiner Nachbarin gibt es noch zwei weitere weibliche Gäste. Sie sitzen an der einzigen Stelle, an der man auf keinen der Fernseher blicken kann. Vor ihnen steht ein Piccolo. Der ist an keinem der sieben Öffnungstage im Angebot.
Vorspeisen
Sebastian, Jae
Angekündigt war eine Mischung aus koreanischer und regionaler Küche. Wissmann hat eine koreanische Mutter und einen deutschen Vater. Als wolle er mir genau das beweisen, stellt er als Erstes ein Stück glasierten Tofu vor mir ab und ein einzelnes, krosses Blättchen Grünkohl. Sonst hat sogar eine Reiswaffel mehr Geschmack als Tofu, aber – hoppla – das geht gut los. Meinen Plan, mich, den Journalisten, als Gast zu tarnen, womöglich noch als einen, der sich auskennt, gebe ich schon zu diesem Zeitpunkt auf. Ich käme mir vor wie von allen Seiten ausgeleuchtet, wenn ich nun auch noch versuchen würde, heimlich Notizen in meinem Block zu machen, den ich in einem Exemplar der „Zeit“ versteckt halte. Also sage ich Wissmann, wer ich bin und warum ich hier sitze, aber dass ich auf keinen Fall ein Restaurantkritiker sei. So dumm wie ich gefragt habe, mit welchem Besteck man den Tofu esse, hat er das sicher schon gemerkt. Mir ist gleich leichter zumute.
Ich probiere weiter, lasse mich durch hauchfein geschnittene Kohlrabi-Scheibchen beeindrucken, und da habe ich die Tomatensoße dazu noch nicht probiert. Später recherchiere ich, dass keine Tomaten für die Soße herhalten mussten, sondern Tamarillos, die bloß wie Tomaten aussehen und deshalb auch Baumtomate genannt werden. Die rote Farbe rührt vom Rotwein her. Der männliche Gast fachsimpelt mit Wissmann über Rippchen. Okay, der geht häufiger in solche Restaurants.
Immer, wenn sie mir Essen bringen, die Frau, der Chef, sein Assistent, sagen sie mir, um was genau es sich dabei handelt. Die eine Hälfte vergesse ich sofort, weil ich noch nie davon gehört habe. Der dritte Gang besteht aus Mandu, einer koreanischen Teigtasche, und Maitakepilzen, die nach ganz schön viel schmecken, dafür, dass sie so klein sind. „Ist das diese Geschmacksrichtung Umami?“, frage ich Wissmann, und er bejaht. Wie alle Portionen dient auch dieser Gang dem Genuss, nicht der Sättigung. Ob es der Preis ist oder die Größe, die meine Essgeschwindigkeit drastisch reduzieren, ich weiß es nicht. Vielleicht auch das Besteck, das so zart geformt ist wie die Speisen.
Die Sommelière sagt, ich mache den Eindruck, dass ich Durst habe, und schüttet mir den ersten Gang der alkoholfreien Getränkebegleitung in ein Glas. Grüner Tee, der ihrer Beschreibung zufolge auch Popcorn und Reiscracker enthält. Ich schmecke weder Popcorn noch Reiscracker. Ich habe Abitur, meine Zunge nicht. Braucht sie zum Glück nicht für den vierten Gang. Gerne hätte ich ein ganzes Brioche und nicht nur eine Scheibe, und eine ganze Schüssel Kräuterbutter, nicht nur ein Stück bekommen. Die Kräuterbutter heißt hier edel Galbi-Butter. Damit würde ich mich am liebsten vor den Fernseher legen und Horrorfilme schauen. Das muss herrlich sein. Stattdessen versuche ich, beides so langsam wie möglich in mich zu stopfen. Der Chefkoch ist derweil damit beschäftigt, für die anderen Gäste etwas auf den Tellern zu stapeln. Er tut das mit der Konzentration eines Chirurgen, der ein offenes Herz vor sich hat.
Beim fünften Gang denke ich zum ersten Mal: Ist gut, aber nicht 109-Euro-gut. Vielleicht lässt sich aus Kürbis auch nur so und so viel herausholen, selbst wenn der Koch ihn mit Popcorn aus Buchweizen, irgendeinem Spezialsesam und Rettich kombiniert. Mit Freude registriere ich, dass der Chef den Pürierstab im Topf kreisen lässt, so wie ich es mit Linsensuppe mache. Er ist also auch nur ein Mensch. Er fragt mich, ob es drüben im Kepler-Eck auch was zu essen gebe. Ich weiß es nicht. Ob er morgen heimlich hinübergeht und auf hausgemachte Frikadellen hofft?
Ich sei ja nicht so der Auberginen-Fan, sage ich dem Koch, als er mir eine glasierte Version serviert, versenkt in weißem Schaum mit Shiitakepilzen, darauf Mungosprossen. Nach dem Verzehr teile ich dem Koch natürlich mit, dass ich nun Auberginen-Fan sei. Wobei es zwar die leckerste Aubergine ist, die ich je gegessen habe, aber am Ende des Tages ist es immer noch eine Aubergine. Frau Weinhouse, die sich immer sehr freut, wenn ich das Getränk mag, das sie mir serviert, sagt, der nächste Gang sei schon der Hauptgang, und ich frage mich, was das dann vorher war.
Neben mir wird gefachsimpelt. Die Frau sagt, deutscher Rotwein sei ihr eigentlich zu leicht, außer der jetzt. Der Mann sagt, deutscher Rotwein mit hohem Alkoholgehalt sei erst durch den Klimawandel möglich geworden. Er dreht in diesen Minuten richtig auf, die Tendenz geht zum Vortrag. Er sagt, der Gegensatz süß und scharf „zieht sich wie so ein Thema“ durchs Menü. „Ein Wiedererkennungswert, nur in besser.“ Ich habe keine Ahnung, was er meint, aber der Chef stimmt ihm zu. Schwer zu sagen, ob er das wirklich tut. Kurz darauf zeigt der Gast der Weinfrau ein Foto auf seinem Handy. Zu sehen ist eine Reihe sehr teurer Weine, denen er bei irgendeinem gastronomischen Event begegnet ist. Der Wert eines Kleinwagens stand da auf dem Tisch, so sagt er, höchstpersönlich zusammengestellt von Dieter Müller. Alle berühmten Müllers, die ich kenne, spielen Fußball. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Dieser Müller ist Deutschlands berühmtester Koch, der kein Fernsehkoch ist. Weshalb ich ihn nicht kenne.
Den Koch vor Ort frage ich, was ich einen Koch immer schon mal fragen wollte: Wann legt man eigentlich einen Deckel auf die Pfanne? Er sagt, sie haben hier gar keine Deckel für die Pfannen. Beschließe, das Konzept Deckel noch mal zu überdenken. So allmählich fange ich an, mich wohlzufühlen.
Christian, Kepler-Eck
In der 93. Minute schallt ein „Neeeeeeein“ durchs Kepler-Eck, das sehr wahrscheinlich auch bei den Vorspeisen im Jae zu hören ist. Fortuna führte bis zu dieser Minute 1:0. Jetzt bietet sie Anlass für viele Fachgespräche, in denen die Worte „wie“ und „immer“ sehr häufig fallen. Es gibt Verlängerung, auch für das Fortuna-Angebot.
2. Getränk: Flensburger Pilsener
Die hiesigen Fans sind neben ihren Schals vor allem an einer Sache zu erkennen: Je heftiger sie sich verachtend über den Auftritt, die Spieler und den Verein äußern, desto mehr lieben sie ihn. In den Minuten bis zum Wiederanpfiff wird viel gespottet und gelacht. Das Geräusch, das einige dabei machen, würde sogar HNO-Spezialisten erschüttern, die glauben, in ihrem Leben alles gehört zu haben.
In der Verlängerung hat Fortuna gute Möglichkeiten zu gewinnen, nutzt aber keine. Für jede dieser vergebenen Chancen kennt jeder Gast eine Erklärung. Jeder eine andere. „Noch eine rauchen, dann gehe ich“, sagt eine der beiden Frauen hinter dem Piccolo. Geraucht wird hier völlig unabhängig von Begeisterungsgrad, Spielminute und -stand. Zwei Gäste sind immer draußen.
An einem der Tische, an dem die meisten der Männer zu klein für ihr Gewicht sind, ist man schon zur Taktik-Besprechung übergegangen: „Wir brauchen auf jeden Fall noch Zeit für einen Döner.“
Ich merke, dass ich nicht in diesem Tempo weiter Flensburger trinken kann. Ich gehe zur Theke und bestelle so leise wie möglich eine Cola. „Cola?“, fragt die Frau hinter der Theke. Ich deute ein Nicken an.
3. Getränk: Cola
Die Flasche ist vermutlich schon länger offen.
Ein Nürnberger sieht die Rote Karte, weil er einen Düsseldorfer bei einem Alleingang kurz vor dem Strafraum foult. „Klug, aber Arschloch“, sagt einer der Männer an der Theke.
Hauptgänge
Sebastian, Jae
Nun könnte ich mal durchblicken lassen, dass ich schon ein paar Dinge übers Essen weiß. Unter dem Kartoffelpüree, auf das eher die Bezeichnung Kartoffelcreme zutrifft, Gang 7, liegt Kimchi, und ich bin stolz, dass ich Kimchi kenne. Um richtig aufzutrumpfen, sage ich dem Koch, dass mir Kimchi sonst immer viel zu scharf sei, hier aber genau richtig. Ich frage ihn, wo sie den herhaben, den Kohl fürs Kimchi. Er versteht es so, dass ich das Kimchi meine. Das würden sie selbstverständlich nicht verzehrfertig kaufen, sondern selbst fermentieren. Ich sage, dass ich selbstverständlich wisse, dass sie selbst fermentieren. Ich sage es auch, um zu zeigen, dass ich das Wort „fermentieren“ kenne, wobei ich später nachschlagen muss, was genau es bedeutet. Ich plaudere schon fast locker. Das ist das Konzept: Kein Koch, der sich in der Küche versteckt, sondern ganz nah bei den Gästen ist. Fast so wie ein Abend mit Freunden.
Nach dem geschmorten Spitzkohl in Misopaste-Hollandaise, Gang 8, sage ich etwas, das auch von meinen Sitznachbarn hätte kommen können. Die Hollandaise sei ja gar nicht so mächtig, wie man es erwarte. Die Weinfrau freut sich schon wieder wie ein Teenager, dass ich mich an Gerstentee mit Mandarinensaft erfreue.
Christian, Kepler-Eck
Das Spiel geht ins Elfmeterschießen. Die Liebe zu Fortuna wird jetzt nicht mehr infrage gestellt, das Schicksal schon. Maulwurf Grabowski wird auf Herzhöhe festgedrückt. Sehr fest.
Es hilft nicht. Ein Unglück, zu dem nur Fortuna fähig ist, beschert Nürnberg den Sieg. Die Gruppe, die gleich Döner essen wird, versucht den Preis ihres Deckels (79,50 Euro) durch die Anzahl der Anwesenden zu teilen. Schließlich zahlt einer mit einem 100-Euro-Schein. Einer der anderen sagt: „Du schreibst dann in die Gruppe, was Du von jedem bekommst.“ Der letzte der Gruppe, der das Kepler-Eck verlässt, sagt „Tschaui“. Auf Tschaui reagiert hier niemand.
Die Verbliebenen sind allerdings auch mit anderen Fragen beschäftigt. Sie wollen jetzt Bochum gegen Dortmund gucken, das läuft aber auf einem anderen Sky-Kanal. Der Mann, der die ganze Zeit an der Theke saß, kämpft mit diversen Fernbedienungen und Energiesparmodi. Dann ist auf allen drei Geräten das zweite Spiel des Abends zu sehen.
4. Getränk: Flensburger (jetzt 2,60 Euro)
Die meisten Gäste haben das Kepler-Eck verlassen, es setzt sich aber auch ein neuer. Er hat einen weißen Schnauzbart und bekommt, ohne etwas sagen zu müssen, ein Alt und einen dunkelbraunen Schnaps vor sich hingestellt. Ich vermute, es ist der Jägermeister von der Wochenkarte.
Der Experte für Fernbedienungen hilft der Frau hinter der Theke beim Aufräumen. Er trägt eine Reihe von Kisten aus der Kneipe und biegt nach rechts ab. Dort ist das Lager.
Grabowski und seine Besitzerin gehen heim. „Wie immer“, sagt sie. Auf dem Rücken ihrer Jacke steht „Love all. Serve all.“ Sie zieht einen Rucksack darüber, in den maximal ein kleiner Maulwurf passt.
Wir sind jetzt noch zu fünft. Vier davon husten.
Desserts
Sebastian, Jae
Der Milchreis, den es zum Blutorangensorbet gibt, ist so weich, dass ich nicht ein Reiskorn auf der Zunge spüre. Dazu serviert mir die Sommelière eine Cola mit weihnachtlichen Gewürzen. Coca-Cola führen sie hier selbstverständlich nicht, auch nur zwei Sorten Bier. Dafür viel Wein. Ich sage der Frau, die Cola erinnere mich an die Curiosity Cola des britischen Herstellers Fentimans. Bei Manufactum muss man für ein Fläschchen fast drei Euro löhnen. Ich bemerke so etwas wie Stolz, als sie die Marke nicht kennt.
Nach dem Sorbet sage ich dem Chef, dass das Sorbet geschmacklich unter der Würzcola verschwinde. Kurz darauf fragt die Weinfrau beinahe besorgt, ob die Cola zu stark gewesen sei. Und ich sage, nein, bloß für das Sorbet. Hört, hört den zügig heranwachsenden Restaurantkritiker. Ich plaudere nun regelmäßig mit Wissmann. Bloß geht es ausnahmslos ums Essen oder die Welt der Spitzengastronomie. Wenn ich sonst essen gehe, spielt das, was auf dem Teller liegt, bloß eine Nebenrolle, heute aber ist es der Hauptdarsteller. So wie man über den Porsche redet, in dem man gerade sitzt, aber nicht über den VW, wenn man in einem VW fährt.
Ich wundere mich schon nicht mehr, dass man einen Shiitake-Pilz zu Speiseeis verarbeiten kann. Auf die Kugel legt Wissmann noch ein zartes Crackergebilde, darauf wiederum drei einzelne Blütenblätter. Ich vermute, dieser Koch verliert nie beim Jenga. Dazu trinke ich ein Getränk mit Bohnenpaste. Logo.
Ich ahne, dass mit Gang 11 das Ende naht. In Form von zwei Pralinen. Eine mit Frucht, eine mit Schokolade. Hat Wissmann selbstverständlich selbstgemacht. Letztes heiteres Herumkumpeln. Ich frage ihn, was er heute gegessen hat, und er überlegt sehr lange, bevor er Onigiri sagt, was ich als Sushi in Form einer Nussecke beschreiben würde. Das Sushi-Eck hat er heute beim Einkaufen mitgenommen. Zu Hause koche seine Frau, er selbst habe dafür keine Zeit, er stehe schließlich in der Küche seines Restaurants. Und ja, er mag auch mal Spaghetti Bolognese oder einen Döner. Bei Licht betrachtet auch völlig klar. Nicht die Leute, die ein Luxusprodukt herstellen, haben das Geld, sondern die Leute, die es erwerben.
Christian, Kepler-Eck
5. Getränk: Cola
Jetzt, da ich sitze, fällt mir auf, dass auf jedem Tisch eine gläserne Kerzenschale mit einem Teelicht steht. Alle Dochte sind weiß.
Der Mann mit dem Schnauzbart geht zur Toilette. Der Hilfsbereite weist die Kellnerin darauf hin, dass der Schnauzbärtige gerne noch ein Bier und einen Schnaps hätte. Der Schnauzbart bewegt sich nach oben, als der Träger an seinen Platz zurückkehrt.
An den Wänden hängen viele bedruckte Spiegel, was mir nun als eine der sinnfreiesten Erfindungen der Welt erscheint. Rund um die Fernseher herum sehe ich eine beeindruckende Sammlung von Fortuna-Schals. Manche von ihnen haben das Grau eines Hundes, der gerade im Rhein gebadet hat.
Der Hilfsbereite fragt, ob die Kellnerin am Freitag arbeitet. Da hat er Doppelkopfrunde. Glaubt er jedenfalls. Sicher ist er nicht, denn er hat seit fünf Tagen kein Handy mehr.
Am unteren Ende eines Spielautomaten klackert es. Er gibt ein paar Münzen zurück.
Am Fenster lese ich von einer Spezialität namens „Keiler“. Ich bestelle einen. „Die gibt es erst nächste Woche, wenn Karneval ist“, sagt die Kellnerin. Ich studiere die Getränkekarte. Ihre Rubriken: Weinbrand, Liköre, Longdrinks, „Für den Magen“ und Spirituosen. Ich suche etwas, das der befürchteten Wirkung des Keilers am nächsten kommt.
6. Getränk: Fernet Branca
Der Schnaps für den Magen schmeckt wie die Cola, nur schlimmer. Ich brauche schnell etwas, um den Geschmack wieder loszuwerden.
7. Getränk: Flensburger Pilsener
Der Schnauzbärtige niest zweimal. „Endlich sagst Du auch mal was“, sagt der Hilfsbereite.
Die Gruppe, die Döner und mehr vorhatte, ist plötzlich wieder da. Als die anderen nicht aufpassen, bestellt einer ein Radler.
Der Schnauzbärtige geht nach Hause. Er sagt zum ersten Mal an diesem Abend etwas. Es ist der Name der Kellnerin.
Die Gruppe plant einen Junggesellenabschied im Frühsommer. Der Hilfsbereite unterhält sich mit dem Kommentator von Bochum gegen Dortmund. „Kann ich dann auch zahlen, bitte?“, frage ich. „15,50 Euro“, sagt die Kellnerin.
Abschied
Sebastian, Jae
Christian schreibt mir, er gehe nun nach Hause. Ich rufe ihn an und sage, er solle noch vorbeikommen. Er meint, er sehe sehr betrunken aus, lässt sich aber doch überzeugen. Er hat jedenfalls sehr kleine Augen und bestellt ein Wasser. Selbstverständlich serviert Frau Weinhouse ihm nicht einfach Leitungswasser. Was genau noch drin schwimmt, vergesse ich, mir zu notieren.
Am Ende stehen 160 Euro auf der Rechnung. 109 Euro für das Essen, 51 Euro für die Getränke. 160 Euro ist ungefähr der Betrag, den ich für Lebensmittel ausgebe. Im Monat. Ich bezweifle nicht, dass die 160 Euro legitim sind. Eher frage ich mich, warum es Menschen erlaubt ist, 160 Euro für ein Abendessen auszugeben, solange anderswo Leute nicht mal 1,60 Euro fürs Abendessen aufbringen können. Das aber denke ich erst am nächsten Tag. An diesem Abend ist der Kommunist in mir still.
Adressen und Öffnungszeiten
Jae, Keplerstraße 13, Reservierung erforderlich, Internetadresse: www.jae-restaurant.de, geöffnet dienstags bis samstags ab 19 Uhr.
Kepler-Eck, Keplerstraße 18, geöffnet montags bis donnerstags 10 bis 1, freitags und samstags 10 bis 5, sonntags 10 bis 23 Uhr.