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Vera Vorneweg hat vor dem "Blauen Bock" an der Ellerstraße das Leben beobachtet und dann den Text, der nun auf den Rollläden zu lesen ist. Foto: Andreas Endermann
Vera Vorneweg hat immer wieder vor dem "Blauen Bock" an der Ellerstraße gesessen und geschaut, was dort passiert. Dann hat sie den Text geschrieben, der nun auf den Rollläden zu lesen ist. Foto: Andreas Endermann

Poetin der Straße

Seit fünf Jahren ist die Oberbilker Kneipe „Zum Blauen Bock“ bereits geschlossen. Nun hat ihr die Schriftstellerin Vera Vorneweg literarisch Leben eingehaucht. Auf den heruntergelassenen braunen Rollläden hat sie eine leise, zarte Textarbeit hinterlassen.
Veröffentlicht am 13. September 2021

Zum Interview kommt Vera Vorneweg, die wirklich so heißt, ein paar Minuten zu spät. Aufgrund des plötzlich einsetzenden Sommerregens habe sie kurzfristig vom Fahrrad auf den Bus umsteigen müssen, erklärt sie. „Entschuldige bitte.“ Die 36-Jährige trägt eine mittelblaue Outdoorjacke, stufig geschnittenes blondes Haar und ein offenes Lächeln im Gesicht. Sie lässt sich auf einen der Terrassenstühle vor dem Büdchen an der Linienstraße plumpsen. Der Regen hat mittlerweile schon wieder aufgehört. Vorneweg bestellt eine Portion Manti, die türkische Variante der italienischen Ravioli, die immer freitags am Büdchen zu haben sind. „Ich kann gleichzeitig essen und Fragen beantworten“, behauptet sie – und wird später das Gegenteil beweisen.

Vera Vorneweg hat Soziale Arbeit studiert. Und Philosophie. Seit 2018 ist sie ausschließlich als freie Schriftstellerin tätig. Im gleichen Jahr bekam sie ihr erstes Stipendium – als Dorfschreiberin in einem 400-Seelen-Dorf in Thüringen. Seitdem gehe ein Stipendium in das andere über, erzählt sie: „Ich kann mich voll und ganz aufs Schreiben konzentrieren. Das empfinde ich als großen Luxus.“

Bereits vor der Corona-Pandemie hat die Schriftstellerin begonnen, Texte im öffentlichen Raum zu hinterlassen. Auf einem Baum tief im Eller Forst zum Beispiel. Oder auf einem großen Stein am Rheinufer, direkt in der Nähe des Fortuna-Büdchens. „Das waren aber eher Versuche, Experimente.“ Auch auf eine Wand der Hall of Fame an der Vennhauser Allee schrieb Vorneweg einen Text – und machte die schmerzliche Erfahrung, dass Kunst im öffentlichen Raum nie für die Ewigkeit gemacht ist. „Nach einer Woche war er schon übersprüht. Dass das so schnell ging, fand ich natürlich schade.“ Auch die Schrift auf dem Baum im Eller Forst ist mittlerweile passé und mutet eher wie Schimmel an. Und der beschriebene Stein war zuletzt aufgrund des Hochwassers überflutet.

Während Vorneweg das erzählt, werden die Schüsseln mit den Manti auf unserem Tisch platziert. „Vorsicht, sehr scharf“, warnt die Servierende. „Ich lieeeeeebe scharf“, entgegnet Vera, schiebt die Schüssel aber vorerst auf Seite, um konzentriert weiterzusprechen. Das mit den Rollläden sei ein glücklicher Zufall gewesen. Sie hatte eigentlich ein anderes Objekt im Auge, das sie gerne beschriften wollte. Ein zugenageltes Ladenlokal auf der Friedrich-Ebert-Straße. Dem Besitzer der Immobilie gehört auch das Haus an der Ellerstraße. „Die Idee, den Text auf die geschlossenen Rollläden der Kneipe aufzubringen, kam von ihm. Da möchte ich mich keinesfalls mit fremden Federn schmücken.“ Vorneweg schaute sich den Ort an – und sagte sofort zu. Der Untergrund sei für sie auch deshalb praktisch gewesen, weil durch die Lamellen die Linien vorgegeben waren. „Außerdem gefiel mir der Gedanke, gegen die Geschlossenheit anzuschreiben und so den Leerstand zu ästhetisieren.“

Entstanden ist die Textarbeit, die nunmehr auf den Rollläden prangt, direkt vor Ort, an der Ellerstraße. Acht bis zehn Mal war Vorneweg im Juni und Juli dort, immer zu unterschiedlichen Uhrzeiten. Morgens passiere ja etwas anderes als abends oder mittags. Sie saß also vor dem Hauseingang, mit Füller und Notizbuch, bereit, alles aufzunehmen, was vor ihren Augen passierte. „Das Wort Beobachten vermeide ich in dem Zusammenhang bewusst“, erklärt sie. „Ich spreche stattdessen von Schauen.“ Schauen habe für sie eher eine Weitwinkel-Perspektive.

Obwohl sie versucht hat, beim Schauen und Notieren „in der Straße zu verschwinden“, wurde Vorneweg natürlich von Passanten wahrgenommen. Immer wieder fragten Vorbeikommende, was sie dort mache. Immer wieder erzählten ihr wildfremde Menschen sehr intime Dinge aus ihrem Leben. Schnipsel aus diesen Spontan-Beichten finden sich in dem Text auf den Rollläden wieder.

„Ellerstraße/Oberbilk“, so der Titel der Textarbeit, ist dann auch weniger eine zusammenhängende Geschichte als eine Aneinanderreihung von Szenen, die auch als Ausschnitte gut funktionieren. „Von überall herabhängende Taschen mit Lauch; Petersilie und Gurken. Die Dominanz der Farbe Grün bei den in den Plastiktüten transportierten Waren“ heißt es in einer Textpassage. Oder: „Der auch hier schwer tragende Bauarbeiter, der Mann mit Zange und blauer Hose und dazwischen immer wieder Kinder an den Händen von Müttern, die Kinderwagen schieben.“ Oder: „Die sich unter dem T-Shirt des Bauarbeiters abzeichnenden Muskeln, SANTA CRUZ, der heimliche Surfer und das nie endende Märchen vom Meer der Stadt.“ Ihr sei durchaus klar gewesen, dass niemand Zeit habe, den Text komplett zu lesen, sagt Vorneweg. Als Autorin nehme sie sich gerne ein Thema vor und kreise es sprachlich ein. Dabei habe sie nicht den Anspruch, dass eine Geschichte entstehen muss.

Vera Vornewegs beschreibt ihre Streetpoesie als niedrigschwelliges Angebot. Von der Straße, für die Straße. Ohne Zwischenhändler. „Es muss nicht bezahlt werden. Es muss noch nicht mal gelesen werden. Anschauen reicht.“ All das soll auch für ihre nächste Arbeit im öffentlichen Raum gelten, an der sie bereits arbeitet. Dass sie erneut in Oberbilk entsteht, ist abermals dem Zufall geschuldet. Auch in diesem Fall hatte Vorneweg zunächst einen anderen Ort im Visier. Die alte Tankstelle am Stresemannplatz. Um deren Eigentümer auszumachen, agierte die Schriftstellerin im Stil einer investigativen Journalistin. Sie fragte im benachbarten Erotikshop „Erdbeermund“ nach dem Besitzer des Areals und wurde an eine Bäckerei verwiesen. Die Spur verlief im Sand. Ein Passant gab ihr dann den Hinweis, sich in ein Café auf der Markenstraße zu begeben, dort würde sie den Gesuchten ganz sicher finden. „Der Typ war dort allerdings komplett unbekannt“, lacht Vorneweg. Aber direkt neben dem Café an der Markenstraße fand sie ein leerstehendes Büdchen – inklusive Rollläden. Und der Besitzer war direkt bereit, es für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. 

Seit Anfang September fährt Vorneweg also wieder regelmäßig von Eller, wo sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern wohnt, nach Oberbilk, um zu schauen, um Eindrücke zu sammeln. An der Markenstraße möchte sie genau so vorgehen wie zuvor an der Ellerstraße. Spätestens Anfang Oktober soll der Text aufgetragen werden. Bevor es richtig kalt wird, will sie mit der Arbeit fertig sein. Ende des Jahres, das möchte sie noch schnell loswerden, erscheint unter dem Titel „Kein Wort zurück“ eine Erzählung von ihr im Wartburg Verlag. Ausgangspunkt der Geschichte sind Worte, die von Rechten vereinnahmt und dadurch anderen entzogen werden. „Darüber musste ich einfach schreiben“, sagt sie mit Nachdruck. Die Manti sind über all dem längst kalt geworden. Das mit dem Multitasking hat nicht wirklich geklappt. Vorneweg lacht und zuckt die Schultern: „Die schmecken bestimmt auch kalt.“

Die Arbeit „Ellerstraße/Oberbilk“ ist an der Ellerstraße 173 zu finden. Die neue Arbeit von Vera Vorneweg entsteht derzeit an dem ehemaligen Büdchen an der Kölner Straße/ Ecke Markenstraße.


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