Sorry, aber Stephanie macht Abitur

Gute Geschichten beginnen nicht mit der Geburt, sondern in der Bücherei. Die Geschichte von Stephanie beginnt also Anfang der 80er in der katholischen Bücherei St. Peter und Paul in dem kleinen Ort Holdorf, Landkreis Vechta, Niedersachsen. Kaum hat sie lesen gelernt, zieht es sie jeden Sonntag nach der Messe dorthin. Sie schleppt die &bdquo;Drei Fragezeichen“ raus, Enid Blyton, Astrid Lindgren. Ihre Eltern lesen die Oldenburgische Volkszeitung, für Bücher bleibt wegen der Arbeit fast keine Zeit. Stephanie wird die erste in ihrer Familie sein, die Abitur macht, studiert, als Diplom-Ingenieurin ihr Geld verdient. Nun sitze ich der 47-Jährigen am Küchentisch ihrer Altbauwohnung in Eller gegenüber und will herausfinden, wie sie das hinbekommen hat. Als ich vorhin das Treppenhaus betrat, beugte sie sich kurz übers Geländer, rief mir fröhlich eine Begrüßung zu und verschwand wieder. Stephanie Woitek trinkt Tee. Im Zimmer nebenan sitzt ihr Mann Udo, ein Informatiker, und arbeitet. Die Tür hat sie einen Spalt offen gelassen. Im Studium verletzte sich ihre Mitbewohnerin beim Volleyball am Knie. Also fuhr Stephanie sie von Münster nach Thüringen, damit sie mit der Familie ihren 30. Geburtstag feiern konnte. So traf Stephanie Udo, den Bruder der Mitbewohnerin. In meiner Familie war ich selbst der erste mit Abitur und Uni-Abschluss, und erst vor wenigen Jahren wurde mir bewusst, dass das nicht selbstverständlich war. Noch heute beginnen nur 27 Prozent der Nicht-Akademikerkinder ein Studium. Schon auf die gymnasiale Oberstufe schafft es nur die Hälfte. Bei den Akademikerkindern sind es jeweils rund 80 Prozent. So besagt es ein Papier des Stifterverbandes von 2021 in Zusammenarbeit mit McKinsey. Noch immer weiß ich nicht, wieso ich es geschafft habe. Aber vielleicht verstehe ich es besser, wenn mir ein anderes Nichtakademikerkind von seiner Bildungskarriere erzählt. Zum Glück besitze ich ein Aufnahmegerät, denn Stephanie redet viel und sie redet schnell. Sie sagt &bdquo;Kack“ und &bdquo;Arsch“. Die ganze Studiererei hat ihre Sprache nicht verdorben. &bdquo;Der Landkreis Vechta sieht auf der Karte ein bisschen aus wie ein Schwein“, sagt Stephanie. &bdquo;Genau das macht den Landkreis aus. Wir hatten mal die größte Schweine-pro-Kopf-Dichte Europas.“ In der Familie ihrer Mutter waren sie schon immer Bauern gewesen, den Stammbaum könne sie bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen. Ihre Mutter überließ den Hof ihrer Eltern dem Zweitgeborenen. Stephanies Onkel und ihr Cousin betreiben noch heute Landwirtschaft. &bdquo;Ich bin im Stall mit großgeworden“, sagt sie. &bdquo;Ich weiß, wie eine Kuh kalbt.“ Stephanies Mutter hatte Lehrerin werden wollen, aber dann musste sie die Schule ohne Abschluss abbrechen. Stephanies Oma war unter einem Rind schwer verunglückt, Stephanies Opa konnte den Hof nicht allein führen. &bdquo;Es hieß, meine Mutter war die schlaueste in der Klasse“, sagt Stephanie. Ihr Vater hatte Kaufmann im Landhandel gelernt, arbeitete aber wie seine Frau bei den Milchwerken Bermes, der Molkerei im Ort. Sie halbtags im Büro, er Vollzeit in der Fabrik, Butter machen und solche Dinge. Viel Geld war am Ende des Monats nicht übrig. &bdquo;Wir haben nicht gehungert, aber ich hatte auch nicht 23 Paar Schuhe.“ Nach Stephanies Erinnerung fuhren sie in der zweiten Klasse zum letzten Mal gemeinsam in den Urlaub, in den Harz. Danach machte sie mit Jugendgruppen Urlaub, später als Leiterin. Ihre Eltern sah Stephanie tagsüber kaum. Wenn sie nicht in der Molkerei waren, verkauften sie Futtermittel und Saatgut, um das Haus abzubezahlen. Dass sie sich große Teile des Tages um sich selbst kümmern musste, hieß aber auch: Ihre Eltern ließen sie machen. &bdquo;Ich hab wahnsinnig viel gelesen, aus eigenem Antrieb heraus. Büchereien sind die größte Schatzkiste, die die Menschheit zu bieten hat.“ &bdquo;Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee berührte sie in der sechsten oder siebten Klasse sehr. &bdquo;Du wächst mit jedem Buch.“ In der Grundschule kam Stephanie gut mit, in der Realschule auch. Wenn sie schon keine Sportskanone war, wollte sie mit Noten glänzen. Realschule war ihr lieber als Gymnasium. Ihr Bruder hatte es dort nicht gepackt. Schon früh ging ihr auch die Frage durch den Kopf: &bdquo;Wie groß darf ich werden, ohne dass ich zu groß werde für meine Eltern?“ In der zehnten Klasse kam sie gar nicht auf die Idee, nach der Realschule aufs Gymnasium zu wechseln, um Abitur zu machen. Sie hätte auch gar nicht gewusst, was sie mit einem Abitur hätte machen sollen. Die einzigen Akademiker, die sie kannte, waren Lehrer und die Musiker der Musikschule, bei denen sie Querflöte gelernt hatte. Sie wollte Floristin werden. Auch ihren Eltern war das Abitur nicht wichtig. Sie vertraten den Standpunkt, dass man mit einer guten Ausbildung und einer ehrlichen Arbeit glücklicher werde als mit einem Studium. Nur der Direktor ihrer Realschule sah das anders. Er kannte Stephanies Mutter aus der eigenen Schulzeit. Sorry, aber Stephanie macht Abitur, sagte er. Es war derselbe Rektor, der ihr empfohlen hatte, in Bewerbungen als Beruf des Vaters nicht Arbeiter, sondern Kaufmann anzugeben, weil es ihre Chancen erhöhe. Stephanie ging also aufs Gymnasium. Doch niemand hatte ihr gesagt, wie schwer der Wechsel für Realschüler:innen war. Sie erinnert sich, dass der Chemie-Lehrer gleich zu Beginn der elften Klasse einen Test schreiben ließ. Der fiel so verheerend aus, dass alle Realschüler:innen das Fach aufgaben. Außer Stephanie. &bdquo;Es ist immer noch eine Person zu viel im Klassenraum, hat der Chemie-Lehrer wortwörtlich gesagt. Daraufhin sagte ich: Herr Jochum, Sie wissen doch, wo die Tür ist.“ Sie sagt, sie sei durchschnittlich intelligent, &bdquo;aber ich bin extrem ehrgeizig.“ Außerdem wollte sie mit ihren Noten dafür sorgen, dass die Eltern mit ihr zufrieden waren und zuhause Burgfrieden herrschte. &bdquo;Das ist ein riesiger Hebel. Da investierst du alles rein. Du willst niemanden enttäuschen, niemanden belasten.“ Durchzukommen, ohne sich völlig fertig zu machen, lautete ihr Plan, aber sie hatte permanent das Gefühl, es nicht zu packen. In der elften Klasse erlitt sie einen Magendurchbruch. Ihre Eltern konnten nicht helfen, außer ihrer Tochter zu sagen, dass sie für sie kein Abitur machen müsse. Stephanie machte weiter. Im Leistungskurs Gemeinschaftskunde, besser bekannt als &bdquo;Politik“, bestritt der Lehrer Herr Doktor Kessel große Teile seines Unterrichts mit Artikeln aus der überregionalen Qualitätspresse. Also abonnierte Stephanie &bdquo;Die Zeit“, verstand aber im Gegensatz zu ihren Mitschüler:innen nicht, was dort stand. Sie kannte die Personen nicht, sie kannte die Wörter nicht. Also schlug sie alles nach, bis sie es verstand. Die anderen erzählten von Künstlern, die ihr unbekannt waren, von Filmen, die sie nie gesehen hatte, von Museen, in denen sie nie gewesen war. Ihre Eltern waren mit ihr ins Museumsdorf Cloppenburg gefahren. In der Oberstufe besuchte sie mit der Schule zum ersten Mal das Theater in Osnabrück. Ihre erste Berührung mit dem zukünftigen Beruf hatte sie der Liebe zu verdanken. In der Oberstufe kam sie mit einem Jungen zusammen. Der Vater war Architekt, die Mutter Bauzeichnerin. In Stephanies Dorf gab es den Job des Architekten nicht. Ihr Abitur machte sie mit 2,8. Das reichte bei Weitem nicht, um Architektur an der Universität zu studieren. Sie hatte den Vertrag für eine Lehre im Beton- und Stahlbau bereits unterschrieben, als der Vater ihres Freundes ihr eine Lehrstelle als Bauzeichnerin in Bremen besorgte. Stephanies Familie verfügte nicht über ein solches Netzwerk. Schließlich erhielt sie auch die Zulassung fürs Architektur-Studium an der Fachhochschule Münster. Auch dort musste sie nach dem Unterricht Wörter nachschlagen. Im Studium kam sie auch zum ersten Mal mit Kunst in Berührung und war mal wieder völlig überfordert. Im Kunstmuseum musste sie sich erklären lassen, wer Mark Rothko und Jackson Pollock waren. Sie sagt, so richtig einen Kopf für Kunst habe sie erst seit zehn Jahren. Ohne sich allerdings die Sprache anzueignen, mit der man über Kunst spricht. &bdquo;Ich nehme nicht am Kunstdiskurs teil. Ich muss keine Bildbetrachtung können. Ich kann beschreiben, was es mit mir macht und warum.“ Nach unserem Gespräch muss ich nachsehen, wie Mark Rothko und Jackson Pollock geschrieben werden. Neun Jahre studierte sie, was auch daran lag, dass sie trotz Bafög nebenbei arbeiten musste, schwer krank wurde, ihren künftigen Mann kennenlernte, von Münster nach Bochum wechselte und eine Tochter bekam. Zunächst aus reiner Vernunft suchten sie vor 22 Jahren eine Wohnung im Süden von Düsseldorf, weil es noch im VRR lag wie Bochum und sie sich das Ticket leisten konnte. Aber auch nah genug an der Autobahn und Leverkusen, wo Udo arbeitete. So kamen sie nach Eller. Die Makler verstanden nicht, warum gerade dorthin, warum nicht lieber Benrath oder Unterbach. Aus Vernunft wurde &bdquo;spröde Leidenschaft“. Schon zu Beginn des Studiums hatte Stephanie festgestellt, dass es nicht ihr Ding war, Pläne zu zeichnen für Gebäude, die auf der grünen Wiese aufgezogen werden sollten. Es interessierte sie eher, wie die Dinge funktionierten, was zu beachten war. Das, was Ingenieure interessiert. Ihren Abschluss machte sie deshalb als Diplom-Ingenieurin in Architektur. Mittlerweile darf sie sich aber auch Architektin nennen, hat die Architektenkammer entschieden. Auch nach dem Studium machte sich bemerkbar, dass ihr das Netzwerk fehlte. Sie sei erst mal ein Jahr arbeitslos gewesen, sagt sie, weil niemand eine Mutter mit Kind einstellen wollte. Dann bekam sie über die wenigen Beziehungen, die sie hatte, doch einen Job, zeichnete für jemanden. So sei das weitergegangen mit den unterbezahlten Jobs, bis sie dort landete, was Property heißt und Hausverwaltung bedeutet. &bdquo;Ich kann unheimlich gut menscheln. Dafür sorgen, dass Haustechniker das tun, was ich möchte.“ Mittlerweile steuert sie für ein Unternehmen Bauprojekte. Sie muss keine Häuser entwerfen oder Baupläne zeichnen, aber das große Ganze im Blick behalten. Heute fällt nur noch selten auf, dass sie ein...

Sorry, aber Stephanie macht Abitur

Sorry, aber Stephanie macht Abitur

Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.

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