“Spieler, die zu Rhein Fire wollen, sprechen als erstes von den Fans“
Jim Tomsula hätte sich selbst ordentlich abfeiern können, aber er beachtete die Chance nicht einmal. Am 5. Juni 2022 kehrte Rhein Fire nach 15 Jahren Pause wieder auf den Platz zurück. Im ersten Spiel in der Europäischen Liga des American Football besiegte das Team direkt den Meister des Vorjahrs, Frankfurt Galaxy. Jim Tomsula, der zehn Jahre in der besten Liga der Welt gearbeitet hatte und unter anderem Cheftrainer der San Francisco 49ers war, hätte im anschließenden TV-Interview in Ruhe erklären können, mit welchen genialen Einfällen und Ansagen er diesen Erfolg herbeigeführt hat. Stattdessen sagte er, er könne nichts dafür. Das alles hätten die Trainer seines Stabs geschafft, er habe nur einen schönen Nachmittag am Rande eines Football-Platzes verbracht.
In einer Sportart, in der Härte, Autorität und Aufsehenkönnen zentrale Rollen spielen, erschien dieses Interview ungewöhnlich. Der US-Amerikaner ist nun erneut mit seiner Familie nach Deutschland gekommen, um Head Coach von Rhein Fire zu sein. Deshalb wollte ich gerne mit ihm sprechen, um zu verstehen, was beim Football in Düsseldorf anders gemacht wird und warum es sich sehr lohnen könnte, in dieser Saison Heimspiele von Fire zu schauen, die das Team in Duisburg austrägt. Jim und ich haben uns zweimal getroffen: bei einem Abend mit Fans und nach dem Training im Düsseldorfer Norden.
Fan-Treffen
Der Knoten ist für die einen eine Altstadtkneipe mit gelegentlichem Football-Betrieb, für die anderen eine Football-Kneipe mit gelegentlichem Altstadtbetrieb. An den Wänden hängen Trikots und Helme, auf den Fernsehern laufen wichtige Spiele und Wirtin Isa Fiedler ist mit Football-Lexikon auf zwei Beinen noch zurückhaltend umschrieben. Sie ist eine Bibliothek. Jim Tomsula ist deshalb an diesem Abend im Knoten zu Gast, um Fragen von Isa Fiedler und den Fans zu beantworten. Das tut er aber erstmal nicht.
Der Cheftrainer spricht zunächst nicht über Taktik, Gegner oder Saisonziele. Er stellt Menschen vor, die zur Fire-Familie gehören: Betreuer, Spieler, Fans. Besonders viel erzählt Jim Tomsula von Leuten, die schwere Krankheiten hinter sich haben oder noch gegen sie kämpfen. Er lobt sie für ihre Kraft und dankt ihnen, dass sie ihre „Weisheit“ mit uns teilen. Dann nähert er sich langsam den Football-Fragen.
Jim, Du hast gesagt, die Fans sind immer eingeladen, beim Training zuzuschauen. Hast Du keine Sorge, dass sich Vertreter anderer Teams unter die Zuschauer mischen und Eure Spielzüge ausspionieren?
Jim Tomsula Das wäre mir egal. Mir ist wichtiger, dass die Fans dabei sein können. Das steht über allen anderen Gedanken.
Wer sind aus Deiner Sicht in dieser Saison die Favoriten?
Jim Tomsula Es wird nicht das Team mit den besten Talenten die Meisterschaft gewinnen, sondern die beste Einheit.
Im Laufe der Fragerunde kommt das Gespräch auf Glen Toonga. Der Brite war vergangenes Jahr für Hamburg aktiv und fiel dort wegen Kokainmissbrauchs auf. Die Liga hat ihn für die ersten Spiele der neuen Saison gesperrt, Rhein Fire hat ihn trotzdem verpflichtet – auf Wunsch des Trainers.
Jim Tomsula Ich bin ein Freund zweiter Chancen. Glen ist ein guter Mensch, der einen dummen Fehler gemacht hat. Dafür ist er zu Recht bestraft worden. Wir möchten zudem, dass er hier mit Jugendlichen arbeitet, die Drogenprobleme haben. Wir haben ihn nicht geholt, um zu gewinnen. Wir brauchen ihn nicht, um zu gewinnen. Aber er soll diese zweite Chance bekommen.
Du hast einmal gesagt, dass der tollste Ort der Welt die Umkleidekabine eines American-Football-Teams ist. Warum?
Jim Tomsula Dort sind alle Religionen, alle Hautfarben vertreten und es ist egal, ob Du schwul oder hetero bist. Ich habe in den 90er Jahren schon schwule Spieler trainiert. Wen interessiert es, ob Du schwul oder hetero bist? Niemanden interessiert das. Und wenn es einen interessiert, dann hat er oder sie ein Problem, aber nicht der Spieler.
Ähnlich wie eine Kabinen-Ansprache vor einem wichtigen Spiel klingen die letzten Worte dieses Abends, die der 55-Jährige an die Fans richtet: „Wir sind eins. Ich will, dass Ihr das fühlt, dass Ihr wisst, dass es wahr ist. Und ich will, dass Ihr wisst, wie wichtig Ihr seid. Spieler, die zu Rhein Fire wollen, sprechen als erstes von den Fans.“
Beim Training
Auf der Anlage des TV Kalkum-Wittlaer sind Motivationshits von Andreas Bourani und den Toten Hosen zu hören. Auf dem großen Platz spielen Kinder ein Fußball-Feiertags-Turnier, auf dem Rasen nebenan bereitet sich Rhein Fire auf die neue Saison vor. Am Ende der Übungseinheit kommen alle Akteure (und das sind viele) in der Mitte des Platzes zusammen. Die Ansprachen im großen Kreis machen nicht nur die Trainer, sondern auch Spieler.
Jim Tomsula kommt für unser Gespräch zu einem Stehtisch am Rande des Spielfelds, drückt sich einen schwarzen Kaffee aus der großen Kanne und unterbricht das Interview, bevor es begonnen hat. Das wird in der nächsten Stunde noch einige Male passieren.
Eine Mutter und ihr Sohn sprechen den Coach an. Die Frau trainiert eine Mannschaft in der Schüler-Variante des Sports, im Flag-Football. Jim Tomsula wackelt vor Freude und verspricht seiner Gesprächspartnerin, sie zu unterstützen. „Bitte zögere nicht zu fragen, wenn Du irgendetwas brauchst“, sagt er zum Abschied.
Später bittet ein Spieler um eine Minute. Er möchte sich für die Chance bedanken, bei Fire mittrainieren zu dürfen. Das bedeute ihm viel. Jim Tomsula umarmt ihn lange und spricht dabei mit ihm. Der Junge mache eine schwere Zeit durch, Football und das Team gäben ihm Kraft, sagt er anschließend.
Du betonst immer wieder, dass bei Rhein Fire alle eins sind: Mannschaft, Trainer, Betreuer, Cheerleader und Fans. Wie kann jemand, der bisher noch kein Spiel von Euch gesehen hat, Teil dieser Einheit werden?
Jim Tomsula Ich kann solchen Leuten nur sagen: Kommt einfach vorbei. Wir werden Euch mit offenen Armen willkommen heißen. Und kommt ruhig drei Stunden vorher. Es spielen Bands, Du kannst neue Leute kennenlernen und es gibt jede Menge Dinge für die Kinder. Fire is family. Hier kann man wirklich mit allen Familienmitgliedern hinkommen. Es gibt keine Hooligans, es gibt nicht mal die Trennung zwischen Heim- und Gäste-Fans. Man gratuliert den anderen, wenn ihr Team einen guten Spielzug gemacht hat, und man gratuliert am Ende auch zum Sieg, wenn die anderen gewonnen haben. Das alles sind genau die Gründe, warum ich zwischendurch aus der Kabine und auf die Fan-Party gehe.
Du verlässt Deine Mannschaft mitten in der Spielvorbereitung?
Jim Tomsula Die Leute halten mich für verrückt, aber es ist einfach zu schön, um das zu verpassen. Ich will’s nochmal anders erklären: Ich bin jetzt 31 Jahre verheiratet. Meine Frau ist in den USA immer irgendwann zum Spiel gekommen, mal zum Kick-off, mal im zweiten Viertel. Aber hier ist sie schon vorher da.
Trotz dieser Begeisterung: Warum verlasst Ihr Jahr für Jahr Euer Zuhause und lebt während der Saison hier in Europa?
Jim Tomsula Bestimmt nicht wegen des Wetters. Im Ernst: Ich bin wegen der Menschen hier. Wir haben immer davon geträumt, nach Düsseldorf zurückzukehren. Es herrscht hier eine Offenheit, echte Freundlichkeit und Nettigkeit. Alle akzeptieren einen, wie man ist, alle helfen einem. Das ist es, wie die Welt sein sollte.
Dazu passt, dass Du betonst, dass Rhein Fire ein Teil der Community sein soll. Wie wollt Ihr das praktisch umsetzen?
Jim Tomsula Wir wollen Feuerwehrleute und Polizisten einladen und ihnen die Ehre erweisen, weil sie sich für die Gemeinschaft einsetzen. Wir wollen Lehrer und Menschen, die im medizinischen Bereich arbeiten, einladen und ihnen für ihre Arbeit danken. Wir wollen nicht durch Werbeanzeigen bekannt werden, sondern dadurch, dass wir Teil der Community sind – in Düsseldorf und in Nordrhein-Westfalen. Wir suchen Partnerschaften und sind bereit, allen zu helfen: anderen Football-Teams, anderen Vereinen, Schulen …
Warum ist Dir das so wichtig?
Jim Tomsula Es gibt zwei Arten, sein Leben anzugehen. Du kannst fragen, was jemand anderes für Dich tun kann, und Du kannst fragen, was Du für jemand anderen tun kannst. Menschen, die sich für die erste Variante entscheiden, werden kein glückliches Leben führen.
Du hast in der vergangenen Saison nach dem Sieg gegen Frankfurt gesagt, Du könntest nichts für den Erfolg. Warum stapelst Du so tief?
Jim Tomsula Ich mache meinen Job, aber ohne die anderen könnte ich ihn nicht machen. Nicht ohne die anderen Trainer, nicht ohne die Cheerleader, nicht ohne die Leute, die sich um unser Material kümmern oder um das Wasser für die Spieler. Ohne all diese Menschen ginge es nicht. Wie könnte ich also wichtiger als irgendjemand anderes hier sein?
Du bist jetzt 55 Jahre alt. Wie lange wirst Du noch für Rhein Fire arbeiten?
Jim Tomsula Solange sie uns hier haben wollen, werden wir hier sein. Und es wird großartig, das verspreche ich.
Die Heimspiele der neuen Saison
4. Juni, 16.25 Uhr: gegen Frankfurt Galaxy
18. Juni, 16.25 Uhr: gegen Paris Musketeers
1. Juli, 14.30 Uhr: gegen Helvetic Guards
9. Juli, 16.25 Uhr: gegen Munich Ravens
23. Juli, 16.25 Uhr: gegen Cologne Centurions
13. August, 16.25 Uhr: gegen Hamburg Sea Devils
Karten gibt es hier.
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