Tabuthema Stuhlgang: Das Pink-Prokto-Team hilft – aber nur Frauen
Ein Jahr nach der Geburt ihres ersten Kindes hatte Lena* immer noch das Gefühl, dass ihr Körper nicht mehr derselbe war. Sie hatte Schmerzen im Becken und saß ewig auf der Toilette, ohne dass irgendetwas passierte. Lange dachte sie sich nichts dabei: „Viele Frauen haben nach der Geburt Probleme mit dem Beckenboden. Ich dachte, das wäre normal“, sagt die 41-Jährige. Dann wurde es schlimmer, irgendwann traute sie sich nicht mehr auf die Toilette. Als sie nicht mehr weiterwusste, vertraute sie sich endlich ihrer besten Freundin an. Eine große Überwindung: „Man spricht heute über vieles, aber Tabuthemen gibt es immer noch. Stuhlgang gehört dazu“, sagt sie.
Ich habe mich so geschämt
Lenas Freundin riet ihr, sich Hilfe zu holen. Sie suchte im Internet, doch mit ihren Anforderungen war es nicht so einfach: Sie wollte ausschließlich von einer weiblichen Ärztin behandelt werden und nicht in ihrer Heimatstadt Köln. „Ich habe mich so geschämt und wollte auf keinen Fall auf jemanden treffen, den ich kenne“, sagt sie. Zufällig stieß sie auf ein Ärztinnen-Team aus Düsseldorf. Victoria Fernandez-Jesberg, Clementine Kim und Julia Ochs arbeiten im Proktologischen Zentrum des Marienhospitals und gründeten vor zwei Jahren „Pink Prokto“. Ein Angebot für Frauen von Frauen, die sich mit Problemen „rund um den Po“ befassen: Analfisteln, Hämorrhoiden, Verstopfung, Stuhlinkontinenz und andere Enddarmerkrankungen gehören zum Alltag der drei Ärztinnen.
Und genau so behandeln sie die Probleme ihrer Patientinnen, die sich oft monatelang nicht trauen, einen Termin zu vereinbaren, auch: „Wir alle essen, trinken und müssen zur Toilette. Es gehört zum Leben dazu und ist das Normalste der Welt“, sagt Fernandez-Jesberg. Und trotzdem sitzen in den Pink-Prokto-Sprechstunden vorwiegend Frauen mit denselben Hemmungen: Junge Mütter, die sich jahrelang mit Geburtsschäden quälen, und ältere Frauen, die immer noch mit den Folgen einer Geburt zu kämpfen haben. „Uns Frauen wird früh beigebracht, Schmerzen auszuhalten und sie hinzunehmen.“
Enterozele durch die Geburt – Blockade im Enddarm
Das war bei Lena auch so. Erst nach eineinhalb Jahren besuchte sie die Sprechstunde im Marienhospital. Die Untersuchung zeigte, dass sie an einer Enterozele litt: Durch die Geburt sind Teile des Dünndarms in ihr Becken zwischen Vagina und Rektum gerutscht. Der abgesunkene Darmanteil drückte beim Pressen auf den Enddarm, dadurch entstand eine Blockade, die die Entleerung verhinderte. Auch die Harnblase kann davon betroffen sein. Die Symptome sind nach der Geburt kaum spürbar, werden aber mit der Zeit immer schmerzhafter. Den Begriff hörte Lena bei der Diagnose zum ersten Mal. „Enterozele klingt nach einer Krankheit, an der meine Großmutter leiden würde, aber nicht ich“, sagt sie. Sie wunderte sich, dass die Erkrankung vor ihrer Geburt nie erwähnt worden war – weder von ihrer Ärztin und ihrer Hebamme noch im Schwangerschaftsvorbereitungskurs. Sie erfuhr, dass bis zu 50 Prozent aller Frauen, die auf natürlichem Weg gebären, danach an Beckenbodenschäden leiden. „Unglaublich, dass ich davon nichts wusste. Das müsste ein viel größeres Thema sein, auch privat unter Freundinnen“, sagt Lena.
Dass so wenig darüber gesprochen wird, liegt auch daran, dass es sich um „Frauenkrankheiten“ handelt. Kaum ein weiblicher Körperteil ist so unerforscht wie der Beckenboden, dabei ist er für viele Körperfunktionen elementar wichtig. Der Großteil der medizinischen Forschung findet immer noch an Männern statt, auch die Proktologie sei jahrelang männerdominiert gewesen, so die drei Ärztinnen. Ein großes Problem: Bei vielen Proktologen vom alten Schlag sei das Schamgefühl der Patienten nicht bekämpft, sondern verstärkt worden. „Kein Wunder, dass sich niemand zum Arzt getraut hat“, sagt Fernandez-Jesberg. Viele ihrer älteren Patientinnen seien damals nicht ernst genommen oder fehldiagnostiziert worden. Das passiere heute immer noch, aber nicht mehr so häufig, da immer mehr Frauen in der Chirurgie arbeiten. Dadurch bekomme auch die Proktologie und ihre vielen Anwendungsbereiche für Frauen mehr Beachtung. Trotzdem gebe es noch nicht allzu viele Angebote wie Pink Prokto, viele Frauen kämen für die Behandlung extra nach Düsseldorf.
Atemübungen helfen bei Verkrampfungen
Die Patientinnen schätzen die Expertise der drei Ärztinnen, aber auch die auf den ersten Blick unscheinbaren Details, an denen deutlich wird, dass bei Pink Prokto Frauen die Entscheidungen treffen: Im Behandlungszimmer gibt es eine Umkleidekabine, damit sich die Patientinnen nicht mitten im Raum ausziehen müssen. Außerdem bekommen sie eine Schutzhose, damit sie sich nicht bloßgestellt fühlen. Das wichtigste, da sind sich die drei Ärztinnen einig, sei aber das Einfühlungsvermögen. Einige Frauen entschuldigen sich, bevor sie sich auf den Behandlungsstuhl setzen. Andere sind so verkrampft, dass sie erst ein paar Atemübungen machen müssen, bevor die Untersuchung losgeht.
Wieder andere haben so schlimme Traumata erlebt, dass sie mehrere Sprechstunden brauchen, um sich auf die Untersuchung vorzubereiten. So wie eine 25-Jährige, die vergewaltigt worden ist und seitdem an Stuhlinkontinenz leidet. „Sie hatte große Angst, in dem Bereich untersucht zu werden und brauchte viel Zeit“, sagt Ärztin Clementine Kim. Sie sprachen lange über die geplante Untersuchung und Kim zeigte ihr den Behandlungsraum und die einzelnen Instrumente. Irgendwann sei die junge Frau dann so weit gewesen und die Untersuchung sei genauso verlaufen, wie sie es vorher abgesprochen hatten. „Wir arbeiten aufwandsorientiert und geben jeder Frau die Zeit, die sie braucht“, sagt Kim. Ihre Hoffnung: Wenn sich die Patientinnen wohlfühlen, kommen sie beim nächsten Mal schneller in die Klinik und plagen sich nicht mit den Schmerzen herum.
Oft gibt es minimal-invasive Lösungen
Denn für viele Diagnosen gebe es eine schnelle und kleine Lösung. Eine Patientin habe nach der Geburt einen so schweren Geburtsschaden erlitten, dass sich rund 30 Zentimeter ihres Darms beim Pressen nach außen stülpte. Ein Jahr lebte sie mit unbeschreiblichen Schmerzen, bevor sie bei Pink Prokto mit einer kurzen OP erlöst wurde. Aber es muss noch nicht einmal so weit kommen. Die meisten Frauen würden sich damit abfinden, nach einer Schwangerschaft nicht Trampolin springen zu können oder anders sportlich tätig zu sein, ohne dabei Wasser zu lassen. „Dafür gibt es eine Lösung, daran muss man sich nicht gewöhnen“, sagt Kim. Beckenbodengymnastik und Biofeedback, eine Therapiemethode, bei der Körperfunktionen bewusst wahrgenommen und beeinflusst werden können, würden bei vielen Frauen schon helfen. Mögliche psychische Probleme, die bei Darmerkrankungen eine große Rolle spielen, werden bei der Behandlung ebenfalls besprochen. Wichtig sei ein ganzheitlicher Ansatz. Diese Mischung hat auch bei Lena gewirkt. Heute hat sie nur noch selten Probleme und merkt, dass sie langsam wieder die alte wird.
15 Patientinnen am Tag
In den vergangenen Jahren haben Fernandez-Jesberg, Kim und Ochs schon vielen Frauen helfen können, bis zu 15 Patientinnen behandeln sie pro Tag. Aber es sollen noch mehr werden. Am Berliner Charité bietet eine Oberärztin Sprechstunden für beschnittene Frauen an, deren Alltag massiv eingeschränkt ist. Viele haben mit Infektionen im Beckenboden zu kämpfen, häufig wird durch die Beschneidung auch der Analausgang beschädigt. Betroffene Frauen aus der ganzen Welt reisen nach Berlin, um sich behandeln zu lassen. Ärztin Julia Ochs interessiert sich sehr für diesen Bereich der Proktologie, fährt immer wieder für Seminare nach Berlin und kann sich vorstellen, ein ähnliches Angebot in Düsseldorf zu etablieren. „Man kann noch so viel tun. Bedarf gibt es überall“, sagt sie.
*Name geändert