Nächstes Mal auf Asche: Lieber Tusa als Fortuna
Samstagabend, Flutlicht, 52.000 Zuschauer. Es ist einer dieser Tage, auf die Niko Offert früher wochenlang hinfieberte. Er hätte eine große Choreografie geplant, während der Arbeit an nichts anderes gedacht und sich in den 90 Minuten im Stadion die Seele aus dem Leib gesungen. Damit sich nicht nur die Fortuna, sondern auch ihre Fans möglichst stark präsentieren. Doch während in der Düsseldorfer Arena Fortuna in einem Wahnsinnsspiel nach 0:3-Rückstand noch 4:3 gegen den 1. FC Kaiserslautern gewinnt, besucht Offert im niederländischen Arnheim ein kleines Punk-Festival. „Samstagabend mal kein Fußball!“, schreibt er dazu in seinem Blog. Erst sonntags steht er wieder am Sportplatz. Wie immer, wenn Tusa 06 Düsseldorf in der Kreisliga A spielt.
„Nächstes Mal auf Asche“, so heißt der Blog, den Offert mit seiner Freundin Bella Kraus betreut. Beide kennen sich noch aus der Fanszene von Fortuna. Heute reizen sie die großen Arenen am Wochenende nicht mehr, sondern die kleinen Sportplätze der Region. In ihren Texten liegt der Fokus auf Kreisliga- bis maximal Regionalliga-Fußball. Und auf Punkmusik, wie an diesem Samstagabend in Arnheim. „Ich finde es ein bisschen echter“, sagt Kraus über die Liebe zum unterklassigen Fußball. „Es ist alles nicht so schön aufpoliert und werbetauglich.“
Zum Treffen haben die beiden nach Flehe geladen. Dort spielt Tusa 06, ihre neue Liebe. Was die beiden nicht bedacht hatten: Nicht nur wir sind an diesem Montagnachmittag vor Ort, sondern auch die Bambini des Vereins. Während die beiden Blog-Betreiber auf dem Rasen für ein Foto posieren, sind ihnen die zuschauenden Eltern und Kinder sichtlich unangenehm. Dabei ist nicht mehr viel von der „Profilneurose“ zu erkennen, die Offert sich selbst attestiert, wenn er über seine Zeit bei Fortuna spricht.
Niko Offert wuchs in Monheim bei seinen Großeltern auf. Als Kind fuhr er eine Zeit lang zu den Spielen von Bayer Leverkusen, als Jugendlicher erstmals zu Fortuna ins alte Rheinstadion. „Das hat mich fasziniert. Das Stadion war viel größer, es brannten Bengalen. Ich habe mich verliebt“, sagt er. Offert ging regelmäßig hin, auch in den sportlich schlechten Zeiten in der Oberliga. Für ihn, so klingt es heute, wurde der Reiz dadurch eher größer. Der Umzug an den Flinger Broich habe dem Verein nochmal eine „originelle Kante gegeben“, sagt er. „Auf einmal kamen auch Punker ins Stadion, das war eine schöne Sache.“
Der Absturz der Fortuna und Offerts aufkeimende Liebe für den Verein fielen in eine Zeit, in der sich eine neue Bewegung in der deutschen Fußballszene etabliert. Die Ultras. Jene fanatischen Anhänger, die ihre Mannschaft spielunabhängig mit Choreografien, Gesängen und mitunter auch Pyrotechnik unterstützen. Fans, die oft kritischer und politischer sind, als man es zuvor aus den Kurven gewohnt war. Als diese Kultur Ende der 1990er-Jahre aus Italien auch zu Fortuna kam, schnappte sich irgendwann Offert das Megafon und stimmte Gesänge an. Bald wurde daraus eine Aufgabe, die ihm mehr als ein Jahrzehnt begleitet. Er wurde „Capo“ der Düsseldorfer Ultras, Vorsänger.
Wenn Offert über seine Zeit bei Fortuna spricht, klingt er manchmal wie der verliebte Jugendliche von damals. Doch meist fängt er sich schnell wieder. Wie um sich selbst zu heilen, streut er Sätze über den modernen Profifußball ein. Dann spricht er über Spieler, die für Geld wechseln, „von dem man ein afrikanisches Land zwölf Monate ernähren könnte“. Doch immer wieder ist ein gewisser Ultra-Phantomschmerz herauszuhören. „Dass ich das nicht vermisse, wäre eine Lüge.“ Offert sitzt dabei auf einer Stufe der für einen A-Klasse-Verein durchaus stattlichen Stehtribüne von Tusa. Bella Kraus ist schräg vor ihm in der Reihe darunter. „Wir sind da unterschiedlicher Ansicht“, sagt sie. „Ich war aber auch nicht so eine zentrale Figur wie Niko.“
Dass der einstige Capo heute noch manchmal leidet, liegt auch an seinem Abschied. Offert ging nicht ganz freiwillig, damals, vor zehn Jahren. Innerhalb der Düsseldorfer Fanszene gab es Konflikte zwischen den eher links geprägten Ultras, für die Offert stand, und Hooligans, die sich zum Teil an eben jener politischen Ausrichtung stören. Offert wurde bedroht und sogar körperlich angegriffen. Irgendwann hörte er auf. „Ich wäre gerne mit einem lachenden und einem weinenden Auge rausgegangen, so waren es zwei weinende Augen. Ich habe viele Tränen vergossen. Ich meine, das war mein Leben. Mein Alltag war Fortuna Düsseldorf.“ Job, Freundin – alles zweitrangig.
Heute ist Niko Offert 41, Bella Kraus 34 Jahre alt. Es gehe nicht mehr um den großen Knall am Wochenende, sondern mehr um „einen friedlichen Kontext“, sagt er. Und den erleben die beiden auf den Sportplätzen der Region. „Groundhopping“ nennt sich dieses Hobby, das viele Anhänger hat. Sie versuchen, an möglichst vielen verschiedenen Orten Fußball zu sehen. Ihnen persönlich sind das Spiel oder die Tribüne weniger wichtig, sondern die Menschen, die ihnen bei ihren Touren begegnen. „Wir sind im Herzen immer noch Punker.“ Das Entscheidende seien der Weg zum Spiel, die wirren Aktionen, die neuen Bekanntschaften. Sogar gute Freunde haben die beiden schon beim „Hoppen“ kennengelernt. Heute fahren sie oft mindestens zu viert raus. Wohin, dass entscheidet sich oft erst samstags morgens nach dem ersten Kaffee.
Gute Freunde waren es auch, die die beiden zu Tusa gebracht haben. Offert hatte damals schon begonnen, auf seiner Facebook-Seite über Amateurspiele zu berichten. Der Blog dazu war noch nicht gegründet. Da meldete sich ein sehr guter Freund, der sich bei Tusa um die Sozialen Medien kümmert. „Ein Fußballverrückter“ wie Offert sagt. Ob sie denn nicht auch mal dort vorbeikommen wollen? Die beiden gingen hin, trafen Bekannte aus Fortuna-Zeiten und gingen wieder hin. Als sie nach ein paar Wochen in den Urlaub fuhren, wurden sie schon vermisst. „Wo ist denn dieser Schwertätowierte mit seiner Freundin“, hieß es dann am Sportplatz. Heute seien sie „Allesfahrer“, sagt Offert und lacht. „Das am weitesten entfernte Auswärtsspiel ist wahrscheinlich Erkrath.“
Warum Offert und Kraus überhaupt mit dem Blog begonnen haben, ist eigentlich eine traurige Geschichte. Offert hatte mit einer schweren Depression zu kämpfen. Er versuchte sogar sich umzubringen. Nach einem Klinikaufenthalt ging es ihm etwas besser. Alle Strategien, um aus der Negativspirale herauszufinden, wirkten jedoch nicht nachhaltig. Was ihm allerdings half, ist zum Fußball zu fahren und darüber zu schreiben. So begann er mit den Facebook-Berichten und lässt sich von der positiven Resonanz irgendwann zum eigenen Blog antreiben. „Es geht einfach darum, etwas Nettes zu schreiben. Und ich freue mich, wenn sich Menschen darüber freuen.“
Heute ist der Blog immer noch sehr Fußball-lastig. Aber es gibt auch Konzertberichte und sogar eine Rubrik, in der Musiker einen ihrer Songs in einem Satz vorstellen. Seit kurzem hat sich Offert zudem dem Podcasten zugewandt. Er interviewt Menschen, die er spannend findet. Viele kennt er noch von früher, andere lernt er bei Zufallsbegegnungen in der Region kennen. Geld wollen die beiden mit ihrem Blog nach eigener Aussage nicht verdienen. Ein paar Träume gibt es aber schon. Einmal in der WDR-Fußball-Sendung von Arnd Zeigler aufzutauchen beispielsweise. Und eine große Stadion-Tour durch Südamerika zu unternehmen.
Wenn Fortuna spielt, verfolgt Niko Offert das maximal noch im Liveticker. Wenn sie gewinnt, freut er sich. Wenn sie am Ende der Saison aufsteigt, noch mehr. Ins Stadion geht er trotzdem nicht und selbst zu einem Pokalfinale in Berlin würde er nicht reisen. „Das fühlt sich falsch an“, sagt er. Da geht er lieber weiter zum Amateurfußball, mit dessen Hilfe er nach und nach auch aus seiner Krankheit herausgefunden hat.
Das mit der Depression ist ihm nach wie vor ein wichtiges Anliegen. Nicht etwa, weil er mit seiner Leidensgeschichte kokettieren wolle. Sondern weil sie ihm nach wie vor Antrieb ist, etwas Schönes zu erschaffen. Um den Menschen da draußen zu zeigen, dass es einen Ausweg gibt. Ganz am Ende, unser Gespräch ist eigentlich schon vorbei, möchte Offert dazu noch etwas sagen: „Ganz viele sehen sich allein und ungeliebt. Und es ist verdammt schwer, sich zu lieben.“ Er schaut mich an. „Und das darfst du gerne zitieren. Wenn jemand das liest, was du da schreibst: Ich lieb dich.“
Weiterführende Links
„Nächstes Mal auf Asche“ steht hier.
Der Podcast „Auf den Zahn gefühlt“ ist hier zu finden.
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