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Unser Bild zeigt Bea Kallen im „Café a Gogo“, das sie derzeit renoviert. Foto: Andreas Endermann
Unser Bild zeigt Bea Kallen im „Café a Gogo“, das sie derzeit renoviert. Foto: Andreas Endermann

Über Leben

Es geht um eine große Liebe, um großes Leid und um den Tod. Es ist die Geschichte der Bea Kallen. Wie sie endet? Sie endet nicht. Sie geht weiter. Und zwar gut.
Veröffentlicht am 6. Mai 2021

Peter hat sich schon lange eine Reise nach Hamburg gewünscht. Also fahren sie los an diesem Tag im Oktober 2020, Richtung Norden. Aber schon zwei Tage später ist klar: Bea Kallens Mann Peter hat nicht mehr die Kraft, es zu genießen. Der Krebs hat seine Leber angegriffen, die Schmerzen sind unerträglich, und die beiden machen sich auf den Heimweg. Im Auto – sie fährt, er sitzt daneben, einen Führerschein hat er nicht – singt er „It’s all over now, Baby Blue“. Zum letzten Mal hört sie ihn singen. Seine Stimme ist schwach, er hat nicht mehr diesen dröhnenden Bass, der tausende Mal das Publikum fasziniert hat, wenn er auf der Bühne stand. Peter wird bald sterben. Bea weiß das, er dagegen klammert sich an eine letzte Hoffnung.

Einige Zeit davor, ein paar Wochen vor seinem 65. Geburtstag, reden sie über seinen bevorstehenden Tod: Diesen Tag werde er nicht mehr erleben, sie ist ehrlich zu ihm. Als er von noch ein paar Monaten oder Jahren spricht, zerstört sie diese Illusion. Sie kennt alles, was in seiner Patientenakte steht, und kann es deuten aufgrund ihrer langen eigenen Erkrankung. Kurze Zeit später, zu Hause, helfen Palliativmediziner. Es kommt der Moment, in dem sie ihm sagt, gleich werde er einschlafen. Und er fragt „Und nicht mehr wach werden?“ Die Antwort ist ja. „Ich liebe Dich“, sagt er. Und: „Auf Wiedersehen.“ Dann schläft er ein. Sie ist bei ihm, als er drei Tage später aufhört zu atmen. Wach geworden ist er in dieser Zeit nicht mehr.

Als Peter gestorben ist, an diesem Nachmittag im November 2020 um halb fünf, ruft Bea ihren Bruder und dessen Frau an. Sie kommen vorbei und gemeinsam setzen sich an das Bett des Toten, trinken Gin, Weißwein, Alt und erzählen Geschichten aus seinem Leben, solche, die der Rheinländer gern Dönekes nennt. Bea, jetzt seine Witwe, tun diese Stunden gut, bis morgens um fünf, es wird sogar gelacht, und schließlich legt sie sich schlafen. Aber nicht mehr neben ihn, wie die letzten Tage, als sie ihn keine Sekunde aus den Augen ließ, sondern allein. Peter ist nicht mehr da. Was von ihm geblieben ist, fühlt sich bald so kalt an.

Zeitsprung zurück, in die 2000er Jahre. Bea lebt auf Mallorca, in Puerto Portals ist sie Chefin der Bar „Del Titanic“. Später wird sie diese Zeit als wild und wunderschön beschreiben, nichts habe sie ausgelassen Sie hat einen Partner, erkennt aber nach einiger Zeit, wie wenig Bestand diese Beziehung hat. Um das mit sich zu klären, beschließt sie im Herbst 2008, auf den Jakobsweg zu gehen. Sie fühlt sich nicht gut, ihr Blutdruck ist zu hoch, oft ist sie erschöpft. Noch weiß sie nicht, dass das nicht die Folge des Beziehungsstress‘ ist, sondern sich etwas ankündigt, was Jahre später ihr Leben bedrohen wird.

Im Oktober 2008 fliegt sie nach Pamplona, wandert durch die winterlichen Pyranäen bis nach Santiago de Compostela – allein. 2009 wiederholt sie die Wanderung, wieder im beginnenden Winter, und entscheidet sich, Mallorca zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren. Ihrem Vater geht es schlecht, und sie muss sich mit seinem baldigen Tod abfinden. So oft es geht, ist sie bei ihm.

Ein Freund will sie ablenken. Er nimmt sie mit an die Schwerinstraße im Düsseldorfer Stadtteil Pempelfort. In diese Bar mit einem komischen Namen – „Café a Gogo“. Dort gibt es oft Livekonzerte, Jazz, Rock und so. Auch an diesem Abend. Auf der Bühne steht ein Mann mit Glatze und Spitzbart. Er spielt Mundharmonika. Beas Vater liebt Mundharmonika. Sie hört seinem Blues zu, und dem Lied „Over the hill“. Der Mann mit dem Bart und der Mundharmonika ist Peter Kallen. Gerade noch beim todkranken Vater, jetzt diese Musik, dieser Sänger – heute beschreibt sie diesen Moment so: Sie sei zusammengebrochen. Es ist der 23. Januar 2011.

Am 6. April stirbt Beas Vater, am 13. Mai heiraten Bea und Peter. Sie ist nun Frau Kallen, und ihn wird sie oft nur mit dem Nachnamen ansprechen: Kallen.

Es ist die große Liebe, das große Glück. Aber die Euphorie dauert nicht lange. Bea fühlt sich immer häufiger müde, ist antriebslos. Sie geht von Arzt zu Arzt, keiner kann helfen. Wechseljahre? Infekt? Als die Thrombozythenwerte völlig verrücktspielen, eher zufällig entdeckt, landet sie schließlich in der Uni-Klinik Düsseldorf bei dem Mediziner Guido Kobbe. Er wird bald zum Vertrauten, zum Lebensretter. Die Diagnose: Osteomyelofibrose. Schwer auszusprechen, dieser Name. Ihr geht er völlig glatt über die Lippen, oft, zu oft hat sie ihn gehört, gelesen, nachzusprechen lernen müssen. Das Viech, nennt sie diese tückische Erkrankung des Knochenmarks, die einen Menschen langsam umbringt. Es sei denn, er findet einen Knochenmarkspender. Beas Bruder, sofort bereit zu helfen, kommt nicht in Frage. Also beginnt eine monatelange Behandlung, parallel startet die Uni die Suche nach einem passenden Spender. Bea lernt Elke Porbadnik kennen. Sie ist die Transplantationskoordinatorin der Uni. Bei dieser Frau bündeln sich die Hoffnungen der Todkranken, sie organisiert die Suche nach dem Lebensretter.

Das Warten beginnt. Bea muss immer wieder ins Krankenhaus. Peter kann den Anblick nicht ertragen. Er hat ein Powerpaket auf zwei Beinen geheiratet, und nun muss er dem Verfall zusehen. Auch das Allheilmittel des Bäckersohnes kann nicht mehr helfen: Wird’s mal brenzlig, serviert Peter Kuchen. Also schickt Bea ihren Mann nach Hause. Die Kraft, sich nicht nur um sich selbst, sondern auch noch um ihn zu kümmern, hat sie nicht. Die Zeit verrinnt.

Der 4. Februar 2016, Weiberfastnacht und – kaum zu glauben – Weltkrebstag. Bea weiß noch die Uhrzeit. Um 11.05 Uhr klingelt ihr Handy. Elke Porbadnik ist dran und will das weitere Vorgehen absprechen. Vorgehen? Welches Vorgehen? Bea begreift nichts. Und versteht endlich: Es gibt einen passenden Spender.

Es geht zurück in die Uni-Klinik, Bea wird vorbereitet auf die Infusion der lebenserhaltenden Flüssigkeit aus dem Mark eines ihr noch unbekannten Menschen. Ihr Immunsystem wird brutal herabgefahren, denn es darf keine Abwehrreaktion gegen die fremde Substanz geben. Sie liegt im Bett, als sie einen Hubschrauber landen hört. Menschen in Arztmonturen rennen, kommen zu ihr. Nun wird ihr injiziert, was ihr Leben retten soll. Minuten später erleidet sie eine Art allergischen Schock, überlebt das, weil ihre Tochter dabei ist und aufpasst. Es folgt ein Horrortrip über 74 Tage, Schmerzen, Übelkeit, Juckreiz, 50 Tage davon mehr tot als lebendig, sagt sie. Purer Alptraum. Aber sie überlebt. Peter kann es nicht ertragen, kommt nicht in die Klinik. Schon am ersten Tag hat sie sich den Kopf rasieren lassen, ausgefallen wären die Haare auf jeden Fall. Sie macht Selfies von sich, bewusst stark geschminkt – mit aufgemaltem Gesicht, wie sie sagt.

Im August 2016 darf sie die Klinik verlassen. Weil aber die körpereigene Abwehr immer noch auf Null steht und jeder noch so kleinste Infekt sie töten würde, verordnet sie sich selbst eine Isolation. Sie zieht in ein separates Apartment der Schwägerin im Stadtteil Hamm, lebt allein, ohne Kontakte nach außen. Mit Peter telefoniert sie, treffen darf sie ihn nicht. Sie beginnt, ihr Immunsystem wieder aufzubauen, ein langwieriger Prozess, der sich leicht aufschreibt, aber mühsam durchlaufen werden will. Ihr bleiben Spaziergänge am Rhein. Was ihr Hoffnung gibt, denn der träge dahinziehende Fluss ist Leben, wie sie sagt. Nach zwei Wochen hält sie es nicht mehr aus, will und geht nach Hause, zu Peter. Aber alle zwei Tage ist sie in der Klinik, das wird noch über Monate so sein. Ihr Körper rebelliert, man nennt sowas eine Abstoßungsrreaktion. Ihre Haut wirft Blasen, zeitweise habe sie den Juckreiz mit einer Gabel und einer Drahtbürste zu bekämpfen versucht. Als sie schließlich in eine Reha geht, wiegt sie noch knapp 50 Kilogramm.

Es vergehen Monate, und langsam, ganz langsam geht es bergauf. Mitte 2018 sagt sie, fühlt sie sich halbwegs fit. Sie nennt es „stabil schlecht“. Immerhin geht es nicht mehr nach unten. Aber nun kommt der nächste Schlag. Ende des Jahres 2018, kurz vor Weihnachten, klappt Peter bei einem seiner Konzerte im „Café a Gogo“ zusammen. Schon länger hatte er sich nicht gut gefühlt, das aber ignoriert. Nun wirft es ihn um, buchstäblich, während eines Auftritts. Ein Freund unter den Gästen erkennt die Lage und hilft mit Nitro-Spray. Das öffnet die Blutgefäße, lindert erste Symptome. Und was macht Peter? Geht zurück auf die Bühne und singt weiter.

Daheim ist er völlig erschöpft, schläft lange, aber sein Zustand bessert sich nicht. Im Februar 2019 geht er zum Arzt. Der schlägt Alarm, stellt einen Infarkt fest und verstopfte Herzkranzgefäße. In der Klinik werden zwei Bypässe gelegt, die Herzleistung des 1,84 Meter großen und 125 Kilogramm schweren Mannes liegt bei zwei Prozent. Zudem gibt es Komplikationen mit der Lunge. Die ist nach jahrelangem Ketterauchen angegriffen, droht zu kollabieren. Neue OP, auch die übersteht er, und kann nach einigen Wochen wieder nach Hause. Kann wieder Musik machen und ist glücklich: „Ich kann wieder singen.“ Sein Lebensinhalt.

Also weiter Musik, wenn auch ein wenig reduziert. Er hat abgenommen, dennoch nennt sie ihn weiter Buddhi. Doch im Verlauf des Jahres 2020 verliert er dramatisch an Gewicht, wird immer schmaler. Oft ist er müde. Schließlich geht er wieder zum Arzt, der eine Magen-Darm-Spiegelung veranlasst und ein MRT (Magnetresonanztomographie) macht. Am Ende die Diagnose – Krebs in der Leber.

Die Krankheit ist grausam. Peter kann nichts mehr essen, wünscht sich dennoch Cevapcici mit Krautsalat. Er lässt das Fleisch liegen, isst nur den Salat. Mit schlimmen Folgen. Der malträtierte Darm protestiert, die Schmerzen quälend. Immer wieder hört er Musik, Joni Mitchell in Endlosschleife. Die beiden sprechen über den Tod, über Trauerfeier und Beerdigung. Peter will verbrannt, die Asche soll verstreut werden. Und so geschieht es, nach seinem Tod an diesem Novembertag 2020.

Als die Asche verstreut wird, regnet es in Strömen, eine junge Frau singt trotzdem zu den Klängen einer Gitarre. Über 200 Leute sind auf dem Friedhof, darunter auch die anderen 15 Witwen. Die anderen Witwen? Bea lacht, wenn sie davon spricht. Ja, die Ex-Freundinnen ihres Mannes. Zu einigen von denen hat sie einen guten Draht.

Schon während seiner Krankheit hat sie alles öffentlich gemacht, bei Facebook und Instagram. Warum tut sie das? Die Antwort: Sie will die Deutungshoheit behalten. Das ändert sich auch nicht nach seinem Tod: Sie postet sein Sterben kurze Zeit später, lebt ihre Trauer vor aller Augen. Spricht vom Überleben, vom Tod, und wie ihr Leben weiter geht. Denn das tut es. Zurzeit renoviert sie das Gogo. Sobald sie öffnen darf, wird sie weitermachen.


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