Unscheinbar ist schön – und das Erdgeschoss zu ignorieren

Es sind nur 719 Schritte. 719 Schritte von meiner Haustür bis zum perfekten Aussichtspunkt. 719 Schritte, um zu sehen und verstehen, dass die 50er-Jahre dieser Stadt besondere Gebäude beschert haben. In ihren Häuserzeilen fallen sie zunächst einmal nicht auf. Weiß man aber von ihnen, dann entdeckt man plötzlich jede Menge unscheinbare Schönheiten. Und macht noch viel mehr Schritte. Die erste Station dieses Spaziergangs liegt an der Bilker Allee 171b, der perfekte Aussichtspunkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben dem Haltestellenhäuschen. Das Gebäude macht es einem nicht leicht. Der rostige-rote Stand-Aschenbecher, der kleine Turm aus Bierkisten, eine Melange aus Rollos und Vorhängen vor einem einzigen Fenster – das alles lenkt erst einmal von der Architektur ab. Dann aber sehe ich plötzlich, dass die Böden der Balkone dreieckig sind und dass in den herrlichen roten Streben vor den Balkonen das Dreieck wieder auftaucht. Den ersten der 719 und mehr Schritte hat eine Ausstellung in der Carlstadt ausgelöst. Ana Vollenbroich und Annelen Schmidt-Vollenbroich vom Architekturunternehmen Nidus zeigen in ihrer Galerie Fotos von Stadthäusern aus den Fünfzigern. Die Broschüre zur Ausstellung enthält einen Stadtplan, in den die Gebäude eingezeichnet sind. Diese Häuser haben inzwischen ein Alter erreicht, dass mehr und mehr Eigentümer sich mit der Frage beschäftigen werden, ob es sich noch lohnt zu sanieren oder man lieber einen Neubau planen sollte. Die Ausstellung ist ein Plädoyer für den Erhalt – und das mit sehr guten Argumenten. Die Architekten mussten sich damals beeilen und hatten es auch sonst nicht leicht. Die Düsseldorfer Innenstadt war im Zweiten Weltkrieg heftig getroffen worden, ein Luftbild in der Ausstellung zeigt viele Wunden und Narben der Bombenangriffe. In diesen Lücken entstanden die neuen Gebäude. Das Material aber war noch knapp, im Wortsinn fabrizierte Teile selten und die Vorgabe, bitte nur eine &bdquo;Hintergrundfolie“ für die großen Geschäftsbauten zu schaffen, wenig motivierend. Aus diesen geringen Möglichkeiten wurde ein kleines feines Maximum. Nichts, das man einfach sehen kann, sondern etwas, dass man finden (wollen) muss. Selbst mit dem Stadtplan in der Ausstellungsbroschüre und den genauen Adressen, bleibt das eine Herausforderung. Die besonderen Stadthäuser sind nie schon von weitem erkennbar, ich arbeite mich von Hausnummer zu Hausnummer, um sie zu entdecken. Und das obwohl ich die Orte alle kenne. An einer der Ecken von Ost- und Immermannstraße etwa liegt das Restaurant &bdquo;What’s Pizza“. Daran bin ich oft vorbeigelaufen, aber erst jetzt habe ich nach oben geschaut. Regen, Sonne und Zeit haben viele Töne von Grau hervorgebracht, auf den hellen Teilen der Fassade hängt der Grobstaub der Großstadt. Aber da sind eben auch die hellblauen Balkone, kaum mehr als ein Austritt, die ein einem präzisen Muster aus der Fassade herausstehen. Ähnlich ist es ein paar Häuser weiter, an der Oststraße 41-43. Hier wechseln sich Fenster, sand- und steinfarbene Fassadenteile in Quadraten ab, also der gleichmäßigsten aller geometrischen Figuren. Ruhe und Raster sind perfektioniert. Leider haben es die Grünen NRW als Mieter im Erdgeschoss mit ihrer Markenfarbe allzu gut gemeint. Ignoriert man die Parterre als regelmäßige Problemzone, fallen mehr und mehr erfreuliche Gemeinsamkeiten auf: Raster und Lochfassaden prägen die Gebäude, zugleich haben sie immer etwas Leichtes: Kreise, Dreiecke, Vor- und Rücksprünge. Da die Mittel fürs Klotzen fehlten und große Würfe gerade nicht erwartet wurden, konzentrierten sich die Architekten auf die feinen Dinge. Organische Formen waren ihr Rock ‘n‘ Roll, spielerische Strenge ihr Markenzeichen. Letzte Zweifel an den 50ern und ihren Stadthäusern beseitigen Ana Vollenbroich und Annelen Schmidt-Vollenbroich in ihrer Ausstellung mit einem Trick. Sie haben von den einzelnen Gebäuden Fassadenmodelle gefertigt und diese nebeneinander aufgereiht. So steht da plötzlich ein Häuserblock, der so gar nicht mehr unscheinbar, sondern höchst intensiv wirkt. Eines der Originale steht am Ende meines Spaziergangs, an der Lindemannstraße 4-6. Auch daran bin ich in die eine wie die andere Richtung schon sehr oft vorbeigefahren, aber nie habe ich diese Balkone gesehen. Wie Trittstufen stechen sie hervor, die einen gradlinig, die anderen nach innen gebogen. Und hier stimmt sogar das Erdgeschoss. Der Friseursalon hat offenbar vor mehreren Jahrzehnten über seinem Fenster eine geschwungene Leuchtschrift angebracht, die uns noch etwas aus den Fünfzigern bewahrt hat: das Wort Haarmoden. Die Ausstellung"Sehnsucht Stadt" ist in der Galerie "Nidus Kosmos" an der Hohe Straße 45 zu sehen. Geöffnet ist die Ausstellung donnerstags und freitags von 15 bis 18 sowie samstags von 12 bis 15 Uhr. Sie läuft bis zum 11. November.

Unscheinbar ist schön – und das Erdgeschoss zu ignorieren

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