Warum dieser Mann alle 372 Stolpersteine in Düsseldorf geputzt hat
Ein Mann aus Itter, er heißt Martin Kreitzberg, lief für sein Leben gern. Als er seinen Wehrdienst leistete, lief er seinen ersten Marathon, denn für einen Marathon erhielt er einen freien Tag. Mit 50 kam er in New York bei seinem 50. Marathon in 5:06:27 Stunden auf Platz 38.276 ins Ziel. Er sah im Laufen keinen tieferen Sinn, es war für ihn einfach Sport.
Dann kam ihm, wie uns allen, Corona dazwischen. Nach Feierabend war wenig zu tun, Marathons fielen auch aus. Kreitzberg brauchte neue Ziele. Er war nicht der Läufer, der jedes Mal die immerselbe Strecke lief. Schon einige Wochen vor Ausbruch der Pandemie hatte er begonnen, alle Gotteshäuser der Stadt abzulaufen, rund 150, um Düsseldorf noch einmal anders kennenzulernen. Zurück nahm er Bus und Bahn, denn manchmal waren es mehr als 30 Kilometer vom Süden der Stadt bis zum Ziel.
Als er alle Kirchen, Synagogen und Moscheen gesehen hatte, suchte er nach etwas anderem, das es ein paar Hundert mal in der ganzen Stadt gab. Er kam auf Büdchen, weil zwar viele Geschäfte wegen Corona ihre Öffnungszeiten reduziert hatten, aber Büdchen, so war sein Eindruck, nie geschlossen hatten. Kathedralen der Nahversorgung, nannte er sie. Er dachte, es wären 200, am Ende lief er 2021 zu mehr als 350. Am letzten Büdchen des Tages trank er ein Bier. Wie schon bei den Gotteshäusern zog er auch dieses Projekt ziemlich problemlos durch. Wohin jetzt?, fragte er sich. Der Versicherungskaufmann ging auf die 60 zu.
In Himmelgeist kam ihm eine Idee. Dort stieß er auf einen Stolperstein, den er noch nie bemerkt hatte. Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. Weltweit existieren mehr als 100.000 von ihnen, quadratische Messingplatten auf einem Betonwürfel, die für die Opfer des Nationalsozialismus stehen, Juden, Sinti und Roma, Linke, Homosexuelle, die ermordet, in den Selbstmord getrieben oder aus dem Land gejagt worden waren. Auf jedem Stein stehen Name und Lebensdaten der Person, er wird meist vor seinem letzten frei gewählten Wohnhaus verlegt. Hier wohnte NAME GEBURTSJAHR deportiert / verhaftet / verurteilt / eingewiesen JAHR ermordet in ORT.
In Düsseldorf gibt es 372 Stolpersteine. Weil sie draußen liegen und Wetter, Dreck und Schuhsohlen ausgesetzt sind, wird aus dem glänzenden Messing schnell schmutziges Metall. Kreitzberg beschloss, zu allen 372 zu laufen und sie zu reinigen. Nicht, weil er glaubte, eine Mission zu haben. Kreitzberg war kein Typ für Überhöhungen. Er machte es einfach, weil er es sinnvoll fand. Am 2. Januar 2022 unternahm er seine erste Tour. Er begann im Norden der Stadt und arbeitete sich immer weiter zu seinem Haus in Itter vor, fast jeden Samstag war er unterwegs. Menschen sprachen ihn an, während er vor dem Stein kniete und ihn reinigte. Viele wussten nicht, was das überhaupt war, so ein Stolperstein. Kreitzberg erklärte es ihnen.
Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.
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