Warum ein Stück Berliner Mauer auf einer Baustelle in Düsseldorf steht
Sie wollen jemanden mit einer versteckten Sehenswürdigkeit überraschen? Eine, die selbst eingefleischte Düsseldorfer nicht kennen? Dann hier entlang: Biegen Sie von der Rossstraße in Golzheim in die Hans-Böckler-Straße ab. An deren Ende gehen Sie bitte rechts die kleine Fußgängerbrücke hoch, die über den Kennedydamm führt. Wenn Sie den höchsten Punkt der Brücke hinter sich gelassen haben, schauen Sie aufmerksam nach links in Richtung der großen Baustelle. Da unten steht, kaum zu sehen, ein mit rotem Graffiti beschmiertes Stück Beton. Das ist – ja, wirklich – ein Teil der Berliner Mauer.
Warum denn ausgerechnet hier? Das habe ich mich auch gefragt, als ich darauf gestoßen bin. Vor knapp zwei Jahren habe ich mich ab und an mit einem Freund zu einem abendlichen Spaziergang getroffen. Was so gewöhnlich klingt, war damals konspirativ, spektakulär – und genau genommen verboten. Es war Pandemie, Lockdown und Ausgangssperre, abends durfte niemand mehr vor die Tür. Deshalb waren die Spaziergänge aufregend. Es war ein bisschen wie früher auf Klassenfahrt, als man heimlich rauchen ging. Im Frühjahr 2021 ist das ehemalige IBM-Grundstück zwischen Kennedydamm und Karl-Arnold-Platz noch keine Baustelle und nicht von einem Zaun umgeben. Und so stehen wir eines Tages vor dieser Mauer. Von der einen Seite schauen mich zwei große, weit aufgerissene Augen an, die jemand darauf geschmiert hat. „Ist das … ?“ Prüfender Blick. „Ja, ich glaube schon.“ „Das kann doch nicht wahr sein.“ Doch. Denkmal, steht auf einer Plakette, die unten an dem Beton angebracht ist.
Der Verdacht erhärtet sich, als ich am nächsten Tag recherchiere. Tatsächlich: Bei den Koordinaten 51°14’46.125″ N 6°46’17.244″ E, also etwa 250 Meter nördlich von dem Punkt, an dem sich Kennedydamm und Kaiserswerther Straße treffen, steht ein echtes Stück Berliner Mauer. An einer trostlosen Einfallstraße, wo sich kaum ein Fußgänger verirrt und kein Autofahrer freiwillig aus dem Fenster guckt – an einer Stelle, wo es eigentlich niemand sehen kann. Wenn man einen Ort suchen müsste, um etwas zu verstecken – bitte: hier wäre ein guter. Wie hat sich die Mauer nur hierhin verirrt? Im Internet finden sich zu wichtigen und unwichtigen Themen Informationen zuhauf. Was dieses Stück Mauer betrifft, gibt es außer dessen Existenz so gut wie nichts. Das Stadtarchiv hilft bei der Spurensuche. Am 1. Dezember 1992 druckt die „Westdeutsche Zeitung“ in ihrer Dienstagsausgabe ein Bild. Demnach hat die US-Computerfirma IBM tags zuvor zwei Segmente der Berliner Mauer vor ihrer Niederlassung am Karl-Arnold-Platz aufgestellt. IBM und der damalige Manager Hans-Olaf Henkel wollen damit an den Fall der Mauer und das Ende der Teilung Deutschlands erinnern und die Verbundenheit zu Berlin ausdrücken.
IBM ist schon vor der Wiedervereinigung auf das Grundstück in Golzheim gezogen, 1979 bezieht das amerikanische Unternehmen das neu gebaute Bürogebäude zwischen Kennedydamm und Karl-Arnold-Platz. Ab 1992 können die IBM-Mitarbeiter auf dem Weg ins Büro einen ehrfürchtigen Blick auf die Mauer werfen. Das hat etwas Amerikanisches, in den USA schmückt die US-Fahne schließlich jeden Supermarktparkplatz. 2005 und 2014 wird der Gebäudekomplex umgebaut, einige andere Mieter ziehen ein, es erfolgt die Umbenennung in „Deep Grey“-Offices. Eine Hommage an die Innovationskraft von IBM. Dem eigens entwickelten Schachcomputer Deep Blue ist es in den 1990er Jahren erstmals gelungen, den damals amtierenden Weltmeister Garri Kasparow zu schlagen. Das Mauer-Teil steht zunächst auf der zum Karl-Arnold-Platz gerichteten Seite, direkt vor dem IBM-Gebäude, ein paar Jahre später wird es umgestellt auf einen zum Kennedydamm angrenzenden Parkplatz auf dem Gelände.
Die Hamburger Investmentgesellschaft Momeni Group erwirbt Grundstück und Objekt 2016. IBM ist inzwischen nur noch Mieter. 2019 zieht das Unternehmen aus und verlegt sich vollständig zum neuen Hauptsitz am Seestern. Der Bürokomplex soll komplett abgerissen werden. Auf dem 11.000 Quadratmeter großen Grundstück ist ein achtgeschossiger Neubaukomplex mit 45.000 Quadratmeter Grundfläche und einer zweigeschossigen Tiefgarage geplant – der neue Name lautet One Plaza. Ein „Nutzungsmix aus Büros und Gastronomie“ soll hier entstehen – ein Landmarkprojekt, wie es so schön heißt. Das neue Gebäude soll drei Haupteingänge besitzen, einen zum Karl-Arnold-Platz und zwei zum Kennedydamm– also auf der Seite, wo das Stück Mauer steht. Der Abriss ist inzwischen abgeschlossen, das Stück Mauer stehen geblieben. Ist es vergessen worden? Die Menschen lassen ja alle möglichen Gegenstände stehen und liegen, bei einem Stück Mauer leuchtet mir das nicht ganz ein. Bei IBM erfahre ich dazu erstaunlich wenig: Es sei schwierig gewesen, die Mauer einfach mitzunehmen. So etwas könne man sich schließlich nicht einfach unter den Arm klemmen, sagt eine Sprecherin. Weitere Details zur Mauer kann sie nicht in Erfahrung bringen. Die Kolleg:innen, die das wissen könnten, seien inzwischen in Rente.
Es gab Zeiten, da war die Mauer nicht mit Achselzucken verbunden, sondern mit Gänsehaut. Sie hatte etwas Magisches mit riesiger Symbolkraft. Zunächst stand sie für den Überwachungsstaat, später für Freiheit. Ihr Fall hat 1989 zwei Länder wiedervereint und viele Menschen vor Freude zum Weinen gebracht. In Deutschland hat es seitdem nichts gegeben, dass zu vergleichbaren Gefühlsausbrüchen geführt hat. Der Abriss der 155 Kilometer langen Mauer begann im Juni 1990. Teile von ihr wurden in die ganze Welt verschenkt und dort als Denkmäler aufgestellt. In einem Casino in Las Vegas sind Urinale an einem Stück Mauer montiert. Andere Mauerstücke stehen in New York, Jakarta, Brüssel Moskau, Tallinn, London, Paris, Seoul, Madrid, Buenos-Aires und an vielen anderen Orten. Sie stehen am Hauptsitz der Uno, in Museen, vor dem Gebäude des Europäischen Gerichtshofs und auch nahe am Landtag in Düsseldorf – fast immer an prominenten Stellen, sodass möglichst viele Menschen sie sehen können. Schaut her, ein Stück Geschichte.
In Düsseldorf-Golzheim steht derweil das vielleicht traurigste Stück Berliner Mauer verlassen und unbeachtet auf einer Groß-Baustelle zwischen Kränen, Baggern und Bauschutt. 3,60 Meter hoch, 1,20 Meter breit und mehr als 2,5 Tonnen schwer. Das Mauer-Teil steht hier inzwischen schon mehr als 30 Jahre und damit sogar länger als vorher im geteilten Berlin. Die Zeiten sind andere, der Blick auf die Wiedervereinigung hat sich verändert. Die Euphorie und Freude über die Deutsche Einheit ist Nüchternheit gewichen, viele Menschen in Ost und West sind sich bis heute fremd geblieben und schauen zwiespältig auf die Vereinigung zurück. Die Trostlosigkeit, die das Stück Mauer in Golzheim umgibt, ist da gewissermaßen sinnbildlich – und womöglich authentischer als an vielen anderen Stellen.
Was wird denn nun bitteschön aus dem Stück Beton? Wird es noch gebraucht? Das One Plaza soll im ersten Quartal 2025 fertiggestellt und bezogen werden. Um das Mauerstück herum laufen seit 2022 die Neubauarbeiten, die Vermietungsaktivitäten haben kürzlich begonnen. Eine Sprecherin von Momeni erklärt mir, dass das Mauer-Teil von IBM übernommen worden sei und in jedem Fall auf dem Grundstück verbleiben soll. Für seine Verwendung gebe es verschiedene Überlegungen. Was genau daraus wird, will sie noch nicht sagen. Eines Tages wird das Mauer-Teil also womöglich wieder gebraucht, ein bisschen Hoffnung bleibt. Das ist bei der Mauer ja schon einmal gut gegangen.
Es ist Anfang Mai, als ich wieder bei der Mauer vorbeischaue. Meine Augen brauchen diesmal einen Moment, bis ich sie auf der Baustelle ausmachen kann. Inzwischen ist der Beton vollständig verhüllt – unten herum mit Holz und oben mit Schaumstofffolie, die etwas durchsichtig ist. Die Augen dahinter sind immer noch weit aufgerissen.