Wenn der Sex eine Stielfrage ist
Dieser Name! Bei näherem Hinsehen durchs Glas der Vitrine im Aquazoo ist klar, sie trägt ihn zu Recht. Weit vom Kopf entfernt sitzen die Sehwerkzeuge beidseitig auf langen Tentakeln. Hätten wir unsere Augen so platziert, würden sie gut einen halben Meter rechts und links vom Kopf entfernt stehen. Naheliegend also, diese kompakten Winzlinge (groß wie ein Centstück) danach zu benennen. Aber warum das so ist, niemand weiß es. Denn einen auf den ersten Blick erkennbaren Zweck – besseren Weit- oder Überblick, räumliches Sehen? – hat das nicht. Dass es nur optische Gründe im Sinne von Attraktivität hat, ist unwahrscheinlich.
Dennoch spielen die Stiele im Leben dieser Insekten (lat.: Diopsidae) eine zentrale Rolle. Weil nämlich die Wirkung von Herrn Stielaugenfliege auf Frau Stielaugenfliege stark von der Länge dieser Auswüchse abhängt. Die Frage also, ob Größe eine Rolle spielt, hat der weibliche Teil dieser Gattung klar für sich beantwortet: Ja, sie spielt eine Rolle, denn sie signalisiert eine gesunde Erbmasse. Also bevorzugen die Damen jene Herren, deren Stielaugen besonders eindrucksvoll sind. Sie kommen bei der Paarung priorisiert zum Erfolg, ihnen fällt es leichter, einen Harem einzurichten. Es ist eine weitere Eigenart der Fliege (männlich), schnell nach dem Schlüpfen aus der Larve (was gleichbedeutend ist mit Erreichen der Geschlechtsreife, wie bei vielen Insekten), damit zu beginnen, unter den Damen zu wählen und sich mit einer Gruppe von Partnerinnen zu umgeben. Das geschieht sehr zügig, viel Zeit zum Leben und Fortpflanzen bleibt ihnen nicht. Nach drei oder vier Monaten schließen die Tiere ihre so besonderen Augen für immer.
Dem Anlegen des Harems geht allerdings ein Schritt voraus, der – siehe oben – unerlässlich ist, um überhaupt beim weiblichen Geschlecht andocken zu können: Die Stielaugen müssen ausgefahren werden. Aus Platzgründen hat die Natur es so eingerichtet, dass die Stiele im Kokon der Larve am Körper anliegen, also von Stiel noch keine Rede sein kann. Sind sie geschlüpft, fangen sie an, dieses ihnen eigene Merkmal auszufahren, sie pumpen es regelrecht auf, warten, bis erhärtet – kein Witz! – und gehen auf Partnersuche. Unter den oben beschriebenen Bedingungen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Sehwerkzeuge sind zwar Geschlechtsmerkmale, aber keine -werkzeuge. Die Fortpflanzung geschieht mittels einer speziellen Konstruktion am hinteren Teil des Körpers, über die er seinen Samen in die entsprechende Vorrichtung bei ihr einfließen lässt. Der Fachmann spricht vom „modifizierten Hinterteilsegment, das auch die Kopulationsorgane enthält“ und nennt es Hypopygium.
Sie wollen noch mehr Kurioses? Bitte sehr: Wie in anderen Gattungen quer durch die Fauna der Welt möchten die buchstäblich zu kurz gekommenen Jungs nicht gänzlich auf die Fleischeslust verzichten und versuchen, am Platzhirsch vorbei, sich den Damen (die augenmäßig ähnlich, aber nicht so groß bestückt sind) in verdeckter Absicht zu nähern. Das würden diese normalerweise zurückweisen, doch die findigen Kerle haben einen Trick entwickelt: Es gelingt ihnen, dank der nicht so stark entwickelten Augenstiele ihre weibliche Seite herauszukehren und so tun, als seien sie gar nicht männlich. Unter dieser Tarnung klappt es dann doch noch.
Und wo leben diese Tiere? In den tropischen Wäldern Asiens und Afrikas, also in feuchtwarmem Klima. Dort werden sie nicht etwa gefangen und nach Düsseldorf gebracht, sondern man züchtet sie selbst, wie andere Insekten und Amphibien. Das ist bei den Stielaugenfliegen ziemlich simpel. Aquazoo-Tierpfleger Alexander Titz erklärt, wie es geht: Die Fliegen werden auf verrottete Maisblätter mit Hefe gesetzt, was ihnen gut mundet. Dort legen sie ihre Eier ab. Sobald daraus Larven geworden sind, werden die separiert und schlüpfen ein paar Wochen später – fertig. Wie es weitergeht, siehe oben: raus aus dem Kokon, Stiele aufpumpen, warten, bis sie hart sind, auf Partnersuche gehen – ein ewiger Kreislauf.