Wie die Ratinger Straße zur Szene-Meile wurde
Wiege der Punk-Bewegung rund um die Toten Hosen und die Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF), Tummelplatz der (noch nicht) berühmten Künstler aus der benachbarten Akademie, studentische Ausgehzone – und mittwochs und freitags bei gutem Wetter kneipenübergreifende Open-Air-Party der lokalen Szene: All das war und ist die Ratinger Straße am Rande der Altstadt. Dabei galten die rund 300 auf den Rhein zulaufenden Meter Kopfsteinpflaster bis Ende der 1960er Jahre als eher ärmliche und durchaus verrufene Gegend – zwar mit einigen traditionellen Bürgerkneipen und Geschäften, aber auch mit Lokalen, die von Prostituierten und Hafenarbeitern besucht wurden.
Volker Zimmermann hat den Wandel der Umgebung ab den 1970ern aus nächster Nähe verfolgt, arbeitete zunächst in der Uel, später im Goldenen Einhorn, das er 1995 als Wirt übernahm. 2005 verabschiedete sich Zimmermann als Gastronom von der Straße. Doch die Geschichte der „Ratinger“ lässt ihn nicht los: Mit den unzähligen historischen Fotos und Erinnerungsstücken, die er im Laufe der Jahre gesammelt hat, könnte man locker eine Ratinger-Straße-Ausstellung füllen. Unser Autor Sebastian Brück hat den gelernten Buchhändler zum Interview getroffen.
Sie haben ab 1972 an der Ratinger Mauer gewohnt, unmittelbar an der Ratinger Straße. Wie war die Stimmung damals?
Zimmermann: Viel wilder als heute. In den siebziger Jahren hatte die Straße ein Alleinstellungsmerkmal. Für Leute, die sich für Kunst, Musik, Design oder Literatur interessierten, gab es in Düsseldorf quasi keine Alternative. Es gab keine szeneaffinen Vorortkneipen oder Cafés in den Stadteilen wie heute rund um Ackerstraße, Nordstraße oder Lorettostraße. Wer künstlerisch und kreativ tätig oder interessiert war, der traf seinesgleichen an der Ratinger, und eben das war der Grund, warum es damals so gut war. Da haben sich in den Lokalen einer einzigen Straße alle Menschen aus Düsseldorf und dem Umland getroffen, die etwas für Subkultur übrighatten, aber trotzdem aus den unterschiedlichsten Ecken und Szenen kamen. Exzesse blieben dabei nicht aus: Es wurde in dieser Stadt vermutlich zu keiner Zeit mehr gesoffen als in den frühen Siebzigern an der Ratinger Straße.
Ursprünglich hatte die Gegend ja ein anderes Image, und als Sie 1970 nach Düsseldorf zogen, hatte der Wandel erst ein paar Jahre zuvor begonnen.
Zimmermann: Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, hatte durch meine Düsseldorfer Oma aber schon früh ein Verhältnis zur Stadt, bin durch sie an Theaterkarten gekommen, habe Museen besucht, zum Beispiel die Kunsthalle, die damals noch recht neu war. Und so war es klar, dass ich irgendwann hier landen würde. Als 20jähriger habe ich mir zunächst ein möbliertes Zimmer über dem Wilddieb an der Hohe Straße gemietet. Und rund ein Jahr später bin ich dann an die Ratinger Mauer gezogen. Das waren noch konservative Zeiten: Ich hatte damals schulterlange Haare und bin anfangs im Füchschen von manchen Kellern aus Protest dagegen nicht bedient worden. Aber das änderte sich dann recht schnell …
Sie hatten die wachsende Szene quasi im Haus. Die Ratinger Mauer 1 war eine bekannte Ausgehadresse. In den Nuller Jahren wurde das Haus abgerissen, musste dem Schlösser Quartier Boheme weichen.
Zimmermann: Viele werden sich noch an das Café Schlonz erinnern, das ab Ende der 1980er die Ecke geprägt hat – bis 2006 Schluss war. Und in dem Kellerclub, der trotz des Neubaus erhalten wurde und momentan leer steht, residierte ja bis zuletzt die Mauer. Ich habe im ersten Stock gewohnt, genau über dem Geschehen. Vor der Schlonz-Phase habe ich die Mieter kommen und gehen sehen, das dürften so um die acht Kneipen und Clubs gewesen sein. Leider habe ich einige der Namen vergessen. Anfang der Siebziger gab es in dem Haus eine Kneipe, wo die bekanntesten Szeneleute der Stadt gearbeitet haben: Mora und Sascha, Cora und Othello. Außerdem gab es im Erdgeschoss des Hauses zwischenzeitlich ein Steakhaus – und auch mal eine Bar, die von Tom Thomas betrieben wurde, dem späteren Inhaber des Cafés in der Mata-Hari-Passage.
War damals das Halbwelt-Image der Ratinger Straße noch spürbar?
Zimmermann: Sagen wir mal so: Man erlebte es in den letzten Zuckungen. Bis zu den frühen Siebzigern gab es an der Ecke zur Heinrich-Heine-Allee noch die Alte Hauptwache, das war die billigste Nuttenkneipe Düsseldorfs. Das Gebäude wurde Anfang der 1970er abgerissen. Die Wirtin, Herta, hat dann einige Jahre später das En de Retematäng aufgemacht – eine Saufkneipe, die wiederum mit Prostitution nichts zu tun hatte. Herta war eine Wirtin mit Herz und Geld, die ist jeden Abend mit dem Taxi nach Kaarst gefahren, wo sie wohnte.
Und Sie haben direkt nach dem Umzug nach Düsseldorf begonnen, in der Gastronomie zu arbeiten?
Zimmermann: Mehr oder weniger. Zunächst habe ich in diversen Altstadtkneipen als Kellner gejobbt. Zwischendurch war ich auch Türsteher, unter anderem im Muckefuck. Auch im Café Bistro in der Mata Hari habe ich einige Monate gearbeitet. 1974 hatte ich schließlich einen Nebenjob in der Uel und habe dort Cornelia de Bruin kennengelernt, die spätere Wirtin des Goldenen Einhorns. Wobei es hier einen interessanten Hintergrund gibt: Die Wirtinnen und Wirte der Ratinger Straße stammten in den siebziger Jahren eigentlich alle aus dem Hutter & Schranz in Oberkassel. Das war das Lokal an der Ecke Düsseldorfer Straße/Kaiser-Wilhelm-Ring, wo heute schon seit langem das italienische Restaurant Confetti´s residiert. Dort hatten neben Cornelia auch Carmen Knöbel und Ingrid Kohlhöfer gearbeitet, bevor sie 1974 den Ratinger Hof übernahmen und ihn von der Hippie-Kneipe in den wichtigsten Treff der Punk-Bewegung in Deutschland verwandelten. Aber auch bekannte Gastronomen abseits der Ratinger haben einen Hutter & Schranz-Hintergrund, etwa der kürzlich verstorbene Robert Hülsmann oder Jürgen Mauermann, der später das Curry im Medienhafen eröffnet hat.
Welche Rolle spielte das 1967 von Bim und Hans-Joachim Reinert gegründete Creamcheese an der Neubrückstraße 12? Das lag ja um die Ecke der Ratinger Straße und galt als in Deutschland einmalige Kreuzung zwischen Pop-Kultur und avandgardistischer Kunst.
Zimmermann: Das war der Melting Pot überhaupt – für die Kunst, für die Drogen, für die Discoszene. Wegweisend auch für Lichteffekte. Zu der Zeit gab es keinen einzigen Laden in Europa, wo so mit Licht gearbeitet wurde. Nicht umsonst sind noch heute Kunstinstallationen aus dem Creamcheese im Kunstmuseum zu sehen, in einem der Künstlergruppe ZERO gewidmeten Raum. Anatol Herzfeld, Joseph Beuys und Günther Uecker gingen im Creamcheese ein und aus, und viele später berühmte Künstler haben dort im Service gearbeitet – Blinky Palermo, Katharina Sieverding und Imi Knöbel. Imi war wiederum der Mann der späteren Ratinger-Hof-Macherin Carmen Knöbel. Solche Verbindungen zur Ratinger Straße gab es so einige. Beuys und Anatol waren beispielsweise schon früh Gäste im Ohme Jupp, als das noch eine richtige Bürgerkneipe war.
Das Creamcheese hat also gewissermaßen die Vorarbeit dafür geleistet, dass die Ratinger im Laufe der 1970er zur Szene-Straße wurde?
Zimmermann: Könnte man so sagen. Der Umbruch verlief fließend, wobei besonders das Jahr 1974 wichtig war. Da gab es zunächst die erwähnte Neu-Eröffnung des Ratinger Hofs, danach übernahmen Gudrun und Dizzi Fischer die Uel, und dann übernahm am 31. Dezember 1974 auch noch Cornelia de Bruin das Goldene Einhorn. Beide Lokale waren zuvor traditionelle Bürgerkneipen, und nun bekamen sie ein jüngeres Image und wurden verstärkt von Künstlern und kunstaffinen Menschen aus dem Akademieumfeld besucht. Wobei der Name Zum Goldenen Einhorn schon vorher bestand: Das Haus Ratinger Straße Nr. 18 hieß schon seit 1632 so. Früher hatten die Häuser gar keine Straßennamen, das hat erst Napoleon eingeführt, sondern eigene Hausnamen.
Sie waren in der „neuen“ Uel am Anfang als Kellner dabei und besuchten auch danach das Lokal als Gast. Wie muss man sich die Szenerie dort Mitte der 1970er vorstellen?
Zimmermann: Die Kunstakademie war damals eine Legende, eine der besten in Deutschland, und deswegen war das zum Ausgehen eine spannende und besondere Zeit. Für die Akademieleute war die Uel mit der wichtigste Treffpunkt – besonders der Bereich rechts der Eingangstür. Der war eine Art Wohnzimmer der Künstler. Dort gab es einen Tisch, an dem saß immer Blinky Palermo, und manchmal lag er auch darauf. Peter Rübsam war immer da, Norbert Tadeuzs war immer da, Ulrich Rückriem war immer da, Abraham David Christian war immer da. Diese Künstler und noch viele andere, die heute oft berühmt sind und von denen einige zu den Top30 der Welt gehören – die waren in den Siebzigern fast alle täglich in der Uel. Alles Leute, die an der Kunstakademie studierten oder dort ihre Lehraufträge hatten. Diese später arrivierten Künstler waren in den siebziger Jahren um die 30 oder 40 Jahre alt und in ihrer besten und wildesten Zeit, und einige sind inzwischen verstorben. Aber damals waren sie eben noch nicht berühmt oder gerade erst dabei, bekannt zu werden, und hatten wenig Geld und umso mehr Pläne und Energie. Diese exzessive Künstler-Phase in der Uel verlief bis etwa Mitte der 1980er, dann wurde es dort in dieser Hinsicht etwas ruhiger.
Sie selbst wechselten von der Uel ins Einhorn.
Zimmermann: Ich kannte Cornelia de Bruin ja bereits als Service-Kollegin aus der Uel, und dann fragte sie mich 1974, ob ich mit rübergehen wollte, als sie das Einhorn als Wirtin übernahm. Beim Publikum gab es zwischen Uel und Einhorn zwar Überschneidungen: Man sah auch im Einhorn immer mal wieder, wie Immendorf, Rückriem oder Polke nachmittags ihren Kaffee tranken. Dennoch war jede Kneipe noch einmal eine Szene für sich. Im Einhorn verkehrte zum Beispiel mehr schwules Publikum als in der Uel. Die legendäre Gerda Kaltwasser von der Rheinischen Post kam oft mit ihren schwulen Freunden vorbei, die im Museumsbereich arbeiteten. Und wo wir gerade von Journalisten sprechen: In den neunziger Jahren sah man Samstag morgens immer die Redakteure und Fotografen aller Düsseldorfer Tageszeitungen im Einhorn, das war aber kein offizieller Stammtisch, die waren einfach da, das hatte sich wohl so ergeben.
Die Ratinger Straße war ab Mitte der Siebziger durch die Punk-Szene ein Treffpunkt der Jugendkulturen. Auch das Einhorn?
Zimmermann: Klar, man sah bei uns auch mal die Toten Hosen, und noch öfter sah man Gabi Delgado und Robert Görl von DAF. Eher seltener sah man die Leute von Kraftwerk, wobei die ohnehin eher in die Uel und in den Hof gingen. Klaus und Thomas Dinger von den Gruppen NEU! und La Düsseldorf waren in den Siebzigern Stammgäste bei uns. Ebenso in den Achtzigern der 2019 verstorbenen Rheingold-Sänger Bodo Staiger und seine Frau Brigitte. Zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle hatten sie mit „Dreiklangdimensionen“ einen Riesenhit. Bei uns haben die beiden oft mit ihren Freunden am Flipperautomaten gespielt. Generell war das Publikum im Einhorn also sehr gemischt, es waren alle möglichen Leute abseits des Mainstreams vertreten. Anfang der Achtziger kamen auch die Popper. Die waren beim Personal nicht so beliebt, es blieb aber eigentlich immer friedlich. Ich weiß gar nicht, woran das lag. Vielleicht hatte das Einhorn einfach eine entsprechende Aura. Selbst die Punks haben sich bei uns so gut wie nie geprügelt. Im Einhorn haben manchmal Leute zusammen gekickert, die sich zwei Stunden später im Ratinger Hof gegenseitig verhauen haben. In den 1990ern wurde die Ratinger dann etwas mainstreamiger und weit über die Kunstakademie hinaus immer mehr zum Studententreff, wobei im Einhorn Mediziner und Juristen dominierten.
Für die Gäste der Uel und des Einhorns war es ein Ritual, dass sich zu später Stunde alle im Ratinger Hof wiedertrafen?
Zimmermann: Genau, der Hof saugte in den Siebzigern und Achtzigern ab Mitternacht alle subkulturellen Gäste aus den Kneipen der Ratinger Straße auf. Da waren die erwähnten Musiker dabei, die hatten oft feste Plätze im Lokal, wo sie sich bevorzugt aufhielten. Dazu kam die Kunstszene, von der eben schon die Rede war. Stammgäste während der Punk-Zeit waren beispielsweise der Düsseldorfer Schriftsteller und Dichter Thomas Kling, der leider auch schon verstorben ist, sowie der Literaturkritiker Hubert Winkels. Ich erinnere auch noch, dass Sebastian Feldmann, der Kulturredakteur der Rheinischen Post, einen Stammplatz im Hof hatte, der stand immer links an der Theke.
Nach dem Abriss des alten Ratinger Hofs 1989 bestand das Lokal in dem an gleicher Stelle entstandenem Neubau unter gleichem Namen weiter, wobei nun eher elektronische Musik gespielt wurde.
Zimmermann: In den frühen Neunzigern entwickelte sich der Sonntagabend zum Insider-Ausgehtag für die Ratinger-Straße-Leute, und auch dabei landeten am Ende alle im Hof. Das war überhaupt ein Phänomen damals. Am Sonntag war es ab 20 Uhr im Einhorn brechend voll, da hat keiner Tatort geguckt, da waren alle unterwegs, so wie an einem Freitagabend. Und als wir im Einhorn bereits am Aufräumen waren, hielten an diesen Sonntagabenden noch um 23 Uhr Taxen vor der Tür, die Leute vor dem Hof abluden, zum Teil sogar aus Köln, Essen oder Dortmund kommend. Es legten bekannte DJs auf, und Michael Stoßmeister stand vorne und entschied, wer rein durfte und wer nicht. Der war eine Türsteher-Legende und wurde sowohl von den Jungs, als auch von den Mädels geliebt. Das Publikum an diesen Abenden war durch den ungewöhnlichen Mix extrem spannend: Da mischte sich die Szene von der Ratinger mit aufgebrezeltem Diskothekenpublikum. Es kamen also auch mal Leute in den Laden, die normalerweise in Köln am Ring ausgingen, Leute, die tanzen und glotzen wollten. Die haben sich dann gefreut, wenn der Michael Stoßmeister sie reingelassen hat. So eine Durchmischung, so eine Party an einem Sonntagabend – das gibt es heute nirgendwo mehr.
1995 gab es einen Wechsel an der Ratinger Straße: Sie übernahmen die Regie im Goldenen Einhorn, während Ihre ehemalige Chefin Cornelia de Bruin das gegenüberliegende Ohme Jupp von der Bürgerkneipe in eine Szenekneipe verwandelte.
Zimmermann: Die neue Konstellation hat der Ratinger noch mal einen Push gegeben, denn danach gab es mit Uel, Einhorn und Ohme Jupp drei Szenekneipen auf engstem Raum. Bei gutem Wetter wurde der Massenauflauf vor den Lokalen noch größer – besonders mittwochs und freitags. Wobei sich der Mittwoch schon in den Achtzigern zum Szenetag entwickelt hatte, an dem sich drinnen und draußen hunderte Menschen knubbelten. Das wurde im Laufe der Jahre immer mehr, bis die Polizei in den Neunzigern begann, die Ratinger Straße an diesen Tagen zeitweise für den Verkehr zu sperren. Wobei ich noch erwähnen möchte, dass das Einhorn in den Siebzigern und Achtzigern eigentlich jeden Abend voll. Damals gab es im Prinzip keinen schlechten Ausgehtag.
Die Menschen haben damals mehr Geld fürs Auswärts-Essen und Ausgehen ausgegeben?
Zimmermann: Definitiv, wobei ich auch nicht genau erklären kann, warum das so war. Möglicherweise hatten die Studenten früher im Sommer häufiger sehr gut bezahlte Ferienjobs. Und vielleicht lag es auch daran, dass nebenher mehr schwarz verdient wurde. Ich schätze mal, dass es um die hundert Restaurants in der Stadt gab, die jeden Mittag voll waren. Es gab allein zwanzig Italiener, wo die Leute mittags auch mal einen Liter Wein zum Essen bestellt haben und das dann als Geschäftsessen von der Steuer absetzten. Auch spätes Essen ist so ein Thema, und ich rede jetzt nicht von einer Pizza oder einem Döner auf die Hand, sondern von richtigen Restaurants, wo man sich an den Tisch setzt und vom Kellner bedient wird: Mir fallen bestimmt 10 bis 15 Restaurants ein, wo man in den Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern auch nach Mitternacht und bis zum frühen Morgen in Düsseldorf noch etwas Richtiges zu essen bekam. Das ist heute nicht mal im Ansatz mehr möglich.
Bis heute hat sich die Tradition erhalten, dass sich am 24. Dezember die Leute ab mittags an der Ratinger Straße treffen, draußen vor den Lokalen, an der Ecke zur Neubrückstraße. Dabei ist es so brechend voll wie im Hochsommer. Wie kann es dazu?
Zimmermann: So hundertprozentig kann man das im Nachhinein gar nicht sagen. Ich schätze, das fing in den frühen Achtzigern an und entwickelte dann eine Eigendynamik. Am Anfang hatte an Heiligabend von den Szeneläden nur das Einhorn geöffnet, bis Punkt 16 Uhr. Später weitete sich das Ganze auch auf die umliegenden Lokale aus, und irgendwann war es soweit, dass wir im Einhorn an Heiligabend genauso viel Personal im Einsatz hatten wie zu Karneval. Eine Art Ratinger-Straße-Familie-Treffen. In den neunziger Jahren zogen viele Stammgäste der Ratinger weg, nach Hamburg, Berlin oder München, und der 24. Dezember war dann eben der Tag, wo alle wieder zusammenkamen, oft mit ihren Kindern im Schlepptau.
Kann es ein Interview über die Ratinger Straße geben, ohne über das Füchschen zu sprechen?
Zimmermann: Nein, und es kann in diesem Fall keine Antwort geben, ohne den Namen Peter König zu erwähnen. Denn ohne ihn gäbe es das Füchschen heute wahrscheinlich gar nicht mehr. Die Familie von Peter König hat ja von jeher um die Ecke der Ratinger gewohnt. Das waren Altstädter, die eng mit der Straße verbunden waren. Peter König hat das Füchschen 1995 übernommen und es geschafft, aus einer verschlafenen, in die Jahre gekommenen Bürgerkneipe ein angesagtes, szeniges und kultiges Brauhaus für alle Düsseldorfer zu machen. Er ist mit einem Festzelt auf die Oberkasseler Kirmes gegangen und war damit extrem erfolgreich. Und 2001 war er nebenbei auch noch Düsseldorfs erster schwuler Karnevalsprinz. Das war in dem bürgerlichen Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, eine kleine Revolution.
Ab der Ecke zur Liefergasse ändert sich der Name der auf den Rhein zuführenden Straße. Szenemäßig wird die „Altestadt“ aber der Ratinger Straße zugerechnet.
Zimmermann: Die Pizzeria Pinocchio an der Altestadt 14 ist der einzige Laden, der seit den 1970ern immer noch den gleichen Inhaber hat. Und das Lokal nebenan, in dem heute die Weinbar Parlin untergebracht ist, hat auch eine spannende Geschichte. Einst hatte die anfangs erwähnte Szene-Legende Mora, die den Mora´s Lovers Club im Kö-Center und an der Schneider-Wibbel-Gasse gründete und heute auf Ibiza lebt, dort eine Boutique mit Hippie-Mode. Später zog in den Raum mit der imposanten Stuckdecke das Café Bagel ein, wo gerne Backgammon gezockt wurde. Das war circa Mitte der Siebziger Jahre. Anfangs hingen da noch so barocke Gemälde mit nackten Frauen an der Wand. Der Pächter hat dann mehrmals gewechselt, das Ambiente wurde umgestaltet, aber der Backgammon-Bezug blieb. Nicht zu vergessen das benachbarte Kreuzherreneck. Aber das war nicht meine Szene, da kann ich nichts zu erzählen. Gegenüber, in dem Eck-Flachbau an der Liefergasse, der später abgerissen wurde, hatte mal Nora Pohl eine Boutique, und später gab es im gleichen Ladenlokal einen Laden namens BBC mit britischer Mode.
Was ist Ihnen aus dem Einhorn noch in besonderer Erinnerung geblieben?
Zimmermann: Ich habe unsere kleinen Traditionen im Einhorn geliebt. Einmal im Jahr wurde zu St. Martin im Lokal ein Kasperltheater für die Kinder unserer Gäste aufgeführt. Das hat Christoph Stüttgen übernommen, ein Düsseldorfer Künstler, der auch bei Beuys an der Akademie studiert hatte. Besonders am Herzen lag mir auch das Styling des Lokals bei den „Tanz in den Mai“-Partys. Da haben wir immer extra eine Dekorateurin engagiert, die den Laden richtig schön mit Blumen-Elementen in Szene gesetzt hat. Auch die Karnevalspartys im Einhorn waren Kult, da haben wir gerne auf schräg-ironische Mottos gesetzt, zum Beispiel „Voodoo-Nutten“, „Stasi-Schlampen“ oder „Hausball der Trümmerfrauen“. Ansonsten habe ich sehr viel Wert auf etwas gelegt, das heute immer seltener in Cafés zu sehen ist: Wir hatten eine umfangreiche Auswahl an Tageszeitungen für unsere Gäste ausliegen, eingespannt in die klassischen Halter aus Holz – ein Stück Kaffeehauskultur. Wir hatten im Einhorn, neben der Düsseldorfer Tagespresse auch SZ, FAZ, Zeit, Tagesspiegel, Merkur, taz und sogar das niederländische Algemeen Dagblad im Angebot. Man kann das sehr schön auf einer Plakat-Illustration des heute weltweit erfolgreichen Künstlers Olaf Hajek sehen, die er damals eigens für das Einhorn gemacht hat und die im Lokal hing: ein Einhorn-Motiv mit Zeitungshalter. Hajek hat übrigens auch die Plakate für unsere Karnevalspartys gezeichnet, die Originale habe ich gesammelt. Ja, und dann hatten wir in der zweiten Hälfte der 1990er auch noch eine Toilettenfrau, die später das Bundesverdienstkreuz erhalten hat: Harriet Bruce-Annan fing bei uns an zu arbeiten, später war sie auch im Les Halles tätig und beschäftigte mehrere Subunternehmer. Harriet war bei unseren Gästen extrem beliebt, und einige haben sie dabei unterstützt, ihre Charity-Organisation African Angel zu gründen, mit der sie Straßenkindern in ihrer Heimat Ghana hilft. Harriets eigene Kinder machen heute Abitur und studieren. Eine schöne Geschichte.
Im Einhorn gab es auch mal eine Musikbox. Wann ist die verschwunden?
Zimmermann: Die haben wir schweren Herzens abgeschafft, nachdem ich das Lokal 1995 übernommen und leicht umgestaltet hatte. Es gab keine passenden Singles mehr, mit der wir das Gerät befüllen konnten. Ich kann mich noch erinnern, dass eines Tages ein Gast die Single „It only takes a minute“ von Take That mitbrachte. Wir haben uns einen Scherz erlaubt und in der Musikbox die Wiederholungstaste aktiviert, sodass keiner der anderen Gäste ein neues Stück auswählen konnte. Der Song von Take That lief also in Dauerschleife – so lange, bis die ersten Gäste verzweifelt gegangen sind, während andere auf den Tischen getanzt haben. An einem Samstagmittag …
2005 kehrten Sie der Ratinger Straße als Gastronom den Rücken.
Zimmermann: Der Pachtvertrag lief aus, und ich habe das Lokal an zwei meiner Kellner übergeben. Die Ratinger Straße war immer noch toll, aber insgesamt hatten sich einige Dinge zum Negativen hin entwickelt: Es kamen und gingen neue Lokale, die mit dem alten, künstlerisch inspirierten Flair der Ratinger wenig bis gar nichts zu tun hatten. Hinzu kam für das Tagesgeschäft die Konkurrenz durch die Kaffeebar-Ketten. Und durch die vielen neuen Büdchen in der Altstadt haben sich immer mehr Leute dort ihr Bier geholt und sich dann einfach an der Ecke Uel/Einhorn/Ohme Jupp zur Straßenparty dazu gestellt. Wir sorgten also für das Flair, verdienten aber immer weniger daran. Außerdem gab es inzwischen jede Menge sehr gute Lokale in den Stadtteilen, sodass viele Düsseldorfer lieber bei sich um die Ecke ausgingen. Das alles zusammen gab mir das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um das Einhorn zu verlassen.
Weitere Informationen
Das großformatige Buch „Die Ratinger Straße: Die Kunst- und Kultmeile in der Düsseldorfer Altstadt“ vereint Historisches mit „Szene“-Geschichten. (2018, Hrsg. Karl Böcker, Verlag J.P. Bachem)
Auf Facebook finden sich in der Gruppe „die Ratinger“ zahlreiche Beiträge und Fotos rund um die Ratinger Straße.
Mehr Texte von Sebastian Brück gibt es auf duessel-flaneur.de.