Wie ein Gedicht auf Klopapier beim Start in ein neues Leben half
Rückblick: Ein Januartag im Jahr 1990. Auf dem Gelände der Firma Henkel an der Bonner Straße findet ein Neujahrsempfang der Düsseldorf Jonges statt. Elegant gekleidete Damen und stattliche Herren lassen die Gläser klirren, essen, trinken und unterhalten sich angeregt. Mitten unter ihnen sitzen Sven und Ilona. Sie fühlen sich wie Außerirdische. Wie berlinernde Außerirdische unter lauter schönen und reichen Rheinländern. Sven kratzt seinen strubbeligen Schopf und geht auf die Herrentoilette. Er setzt sich in einer der Kabinen auf den Deckel des WCs, holt einen Stift aus seiner Hosentasche, zieht am Klopapier und beginnt zu schreiben.
Seit November im Westen,
im goldenen Land???
Die Heimat dafür verlassen,
´nen Koffer in der Hand.
„Wir waren, gloob ick, die Quoten-Ossis auf der Feier. Die hatten zwei Pärchen aus der DDR zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen. Und ick saß da mit meinem Vokuhila und meiner Ilona und einem anderen Ost-Pärchen.“
Diese ist eine von gefühlten 41 WhatsApp-Sprachnachrichten von Sven auf meinem Handy in den vergangenen Wochen. Ich wollte unbedingt einen deutsch-deutschen Text schreiben zum 3. Oktober, dem Tag der Einheit. Aber ich gebe zu, ich war ein bisschen naiv. Es wurde Herbst, der 3. Oktober nahte, und ich wurde nicht fertig. Denn ich spürte, dass ich einen Mann beschreiben wollte, den man schlecht beschreiben kann. Eigentlich muss man ihn hören oder sehen. Er selbst findet seine Story ziemlich unspektakulär. Ich nicht.
Das ist jetzt eine gemeine Stelle, den Text auszublenden, das wissen wir.
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