Erst die Wohnung

Andre kommt immer wieder aufs Badezimmer. Ein Traum, sagt er. Das müsst ihr sehen, sagt er. Im Badezimmer gibt es ein Waschbecken, einen Spiegelschrank, eine Duschkabine (&bdquo;mit Regendusche“), eine Waschmaschine, ein Radio in der Wand. Alles sauber, alles normal. Hammer, oder?, sagt Andre. Andre war lange obdachlos. Diese Wohnung im Stadtteil Bilk hat er dank des Projekts &bdquo;Housing first“ bekommen. Die Obdachlosenhilfe FiftyFifty und der Paritätische Wohlfahrtsverband sind damit einen neuen Weg gegangen. Der Housing-first-Fonds stellt den Teilnehmern des Projekts eine Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag zur Verfügung. Mittlerweile ist dies in 58 Wohnungen in Düsseldorf möglich. 50 davon hat FiftyFifty mit Spendengeldern gekauft, die übrigen stammen von Wohnungseigentümern, die den Ansatz unterstützen möchten. Die Grundidee ist in den USA und Mitte der 90er Jahre entstanden. Damals stellte der Psychologe Sam Tsemberis fest, dass es im Kampf gegen Wohnungslosigkeit ein Grundproblem gibt. Diejenigen, die eine dauerhafte Wohnung erhielten, mussten dafür eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Die Betroffenen mussten nachweisen, bereit für ein selbständiges Leben zu sein. In diesem Prozess blieben viele stecken, weil sie eine der Bedingungen nicht erfüllten, aufgrund der strengen Regeln aus dem Programm flogen und die Wohnung wieder verloren. Der Ansatz &bdquo;Housing first“ verzichtet darauf, Druck aufzubauen. Die Teilnehmer müssen keine Gegenleistung erbringen, nicht mit Drogen oder Alkohol aufhören, nicht an Behandlungen teilnehmen. Sie können, sie müssen aber nicht. Aus den USA kam der Ansatz nach Europa. Hier gab es ein großes &bdquo;Housing first“-Projekt in Frankreich, dann in Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Portugal, Spanien und Großbritannien. Deutschland folgte relativ spät. Der Housing-First-Fonds, den FiftyFifty 2017 mitbegründet hat, war der erste in Deutschland, der in einer nennenswerten Größenordnung und mit der Bezeichnung "Housing first" startete. Ein Jahr später folgte ein Modellprojekt in Berlin. Und so änderte sich vor etwas mehr als drei Jahren Andres Leben. Er erzählt auf der Zeit davor im Schnelldurchlauf: Seine Mutter starb früh, er wurde im Heim groß. Als Erwachsener wurde er zweimal Vater, hatte &bdquo;zweimal ein glückliches Familienleben“. Aber er nahm auch harte Drogen, spritzte Heroin und trank. Das brachte ihn auf die Straße. Zehn Jahre lebte er dort, schlief in der Altstadt, an der Tonhalle und im Winter in den Notschlafstätten. Ein Jahr versuchte Andre in der Gemeinschaftsunterkunft an der Eisenstraße in Oberbilk den Anfang von einem Neuanfang. Dort hatte er einen abgeschlossenen Wohnraum, aber die übrigen Bedingungen beschreibt er als heftig. Fast jede Woche sei jemand gestorben, die Toiletten seien vollgekackt gewesen, regelmäßig sei man auf dem Weg dorthin in menschliche Hinterlassenschaften getreten. Andre hielt es nicht mehr aus – und kam unverhofft zu einer &bdquo;Housing first“-Wohnung. Mit eigenem Badezimmer. Das Projekt setzt bei Erfahrungen an, wie Andre sie gemacht hat. In Gemeinschaftsunterkünften gibt es keine Perspektive. Das sagt schon das Wort Übergangswohnheim. Man kann in nur drei Tagen rausfliegen. Andere Hilfsangebote fordern von den Teilnehmern meistens viele und deutliche Veränderungen und überfordern sie damit. Psychologe Sam Tsemberis hat deshalb acht Grundprinzipien für &bdquo;Housing first“ definiert. Ausgangpunkt ist die Feststellung, dass Wohnen ein Menschenrecht ist. Einige der weiteren Punkte: Die Nutzer*innen der Wohnung dürfen frei entscheiden, was sie machen und was nicht. Ob sie Drogen nehmen, Alkohol trinken, an Beratung oder Behandlungen teilnehmen. Wohnen und Betreuung sind also getrennt. Unterstützung gibt es, wenn gewollt, flexibel und so lange wie nötig. Den Nutzer*innen droht kein Scheitern, kein Verlust, sie fühlen sich deshalb nicht überfordert. Seit Andre die Wohnung hat, nimmt er keine harten Drogen mehr. Er ist in einem Methadon-Programm. Er wäscht seine Wäsche (hängt ordentlich auf dem Ständer im Wohnzimmer), er kocht für sich (an der Küchenzeile neben der Schlafcouch). Struktur in den Tag bringt Duke, der Hund, den Andre ungefähr so lange hat wie die Wohnung und mit dem er dreimal täglich unterwegs ist. Eine feste Arbeit hat Andre nicht. Gemeinsam mit Duke macht er Stadtführungen beim Zakk, ab und zu hilft er Leuten. Er hat lange auf der Kirmes gearbeitet und weiß, wie man Dinge, die keinen Schaden nehmen dürfen, vorsichtig und gut einpackt. Andre bastelt gerne an seinem Rennrad herum, schnappt sich dann seine Musikbox und fährt mit dem Rad in die Altstadt. Ab und zu nimmt er auch seinen Schlafsack und sein Zelt und pennt draußen. &bdquo;Manchmal brauche ich das. Ich habe ja nicht nur Scheißzeiten auf der Straße erlebt, es gab auch gute Zeiten.“ Bei den Nachbarn, so erzählt Andre, habe er nie drumherum geredet. Er habe gesagt, dass er obdachlos war und dass sein Vermieter FiftyFifty ist. Das habe anfangs für Probleme gesorgt, er habe gleich einen Stempel auf dem Hintern gehabt: der Junkie, der Penner. Mittlerweile haben sich alle gut arrangiert. Neulich habe die Vermieterin einer anderen Wohnung im Haus geklingelt, um ihm zu sagen, sie habe einen neuen Mieter. Sie sei echt begeistert gewesen, wie gut Andre seine Wohnung pflege, und habe versprochen, bei der nächsten Eigentümerversammlung davon zu berichten. Dass Andre nicht mit anderen Obdachlosen in einem Haus lebt, sondern mit Menschen, die solche Erfahrungen nicht gemacht haben, ist ein weiterer wichtiger Punkt des Konzepts. Würden mehrere oder viele ehemalige Obdachlose in einem Haus zusammenleben, wäre die Gefahr groß, alte Muster beizubehalten und sich gegenseitig runterzuziehen. &bdquo;Es hat einen Assimilierungseffekt, wenn keiner aus der Szene kommt“, sagt Streetworker Oliver Ongaro. Das alles hat zu vielen positiven Berichten derjenigen geführt, die die Projekte begleiten. Die statistischen Werte schwanken von Land zu Land. Aber die Zahl derjenigen, die nach einem oder mehreren Jahren noch in der Wohnung sind, ist immer hoch. Mal sind es 79 Prozent, mal sogar 97. Diese Werte sind doppelt wichtig: natürlich für die Betroffenen und auch für die Zukunft. Die Modellprojekte in Deutschland laufen bald aus oder sind es schon. Nun müssen die Kommunen entscheiden, ob die Ergebnisse sie so überzeugen, dass sie einsteigen und damit eine neue Form der Sozialarbeit starten. Quellen/Weiterführende Links Auf der Seite des Housing-First-Fonds werden das Konzept für die Organisationen der Wohnungslosenhilfe aus NRW und Unterstützungsmöglichkeiten erläutert. Der britische Professor Nicholas Pleace hat eine umfangreiche Studie zu &bdquo;Housing first“ geschrieben, die hier in der deutschen Fassung zu finden ist. Auf der Seite des Berliner &bdquo;Housing first“-Modellprojekts stehen unter anderem zwei Berichte zum bisherigen Verlauf.

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